Die Zahl der Patienten mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen wie etwa Depressionen, Ängsten und Burn-out nimmt in Deutschland seit Jahren zu. Woran das liegt und wie man Betroffenen helfen kann, verrät der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Evangelischen Lukas-Stiftung Altenburg, Christian Schäfer, im Gespräch mit Karsten Huhn.
Herr Schäfer, uns Deutschen geht es so gut wie nie zuvor. Dennoch nimmt die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen zu. Woran liegt es?
Solange man damit beschäftigt ist, die eigenen Grundbedürfnisse zu befriedigen, denkt man weniger darüber nach, dass einem etwas im Leben fehlt. Vielen wird das erst bewusst, wenn die Sicherheit von Wohnung, Arbeit und etwas Wohlstand gegeben ist. Dann denken sie darüber nach, was sie in ihrer Kindheit und Adoleszenz erlebt haben, dass sie unter der Trennung der Eltern oder unter deren ständiger Abwesenheit gelitten haben.
Oft werden auch seelische Verwundungen wie Missbrauch über lange Zeit durch Aktionismus oder Suchtmittelkonsum übertüncht – und plötzlich bricht die Verletzung wieder auf. Manchmal reichen dafür Ereignisse, die von außen betrachtet nicht besonders dramatisch wirken: Der Hund ist gestorben, und plötzlich kommt es zu einer panischen Überreaktion. Bei Visiten schaue ich gerne, was bei den Patienten auf dem Nachtkästchen steht. Häufig sind es Tierporträts.
Ganz schön traurig, wenn der nächste Angehörige ein Hund ist.
Viele Menschen sind einsam. Besonders auffällig ist das in der jungen Generation: Viele gehen nicht in den Sport- oder Jugendverein, sondern sitzen den ganzen Tag vor dem Fernseher oder Computer.
Was ist gegen Zerstreuung am Bildschirm einzuwenden?
Die modernen Medien haben uns sehr viel Freiheit geschenkt, aber es ist wie bei allen Dingen: Die Dosis macht das Gift. Zwischen Normalkonsum und Sucht liegt oft ein schmaler Grat. Natürlich kann man mal einen ganzen Abend vor dem Fernseher sitzen, aber wenn man es ständig tut, vereinsamt man. Wer gute Beziehungen pflegt, wird seltener psychisch krank.
Dann kommen die Leute mit ihrer Einsamkeit zu Ihnen in die Klinik, und alles wird gut?
Wir können oft nur Krisenintervention betreiben. Manchmal sind unsere Ärzte, Therapeuten, Pfleger und Krankenschwestern die letzten Bezugspersonen, die unsere Patienten haben. Das Klinikpersonal wird dann zur Familie.
Welche Patienten kommen zu Ihnen nach Altenburg?
Früher gab es hier eher Patienten mit klassischen Depressionen, Alkoholabhängigkeit und Schizophrenien. Jetzt haben wir häufig Patienten, die haltlos sind und keine feste Persönlichkeitsstruktur aufbauen konnten. Sie haben keine Ausbildung, haben noch nie gearbeitet und leben in wechselnden Beziehungen. Was ihnen fehlt, ist Gemeinschaft, Bindung, eine Art Heimat. Sie sind in einem Wohlfahrtsstaat aufgewachsen, der alles stellt. Viele sagen: „Mir reicht Hartz IV. Ich habe Fernseher, Essen, Wohnung und Waschmaschine. Mehr brauche ich doch gar nicht.“ Und doch erleben sie eine große innere Leere.
Dann kann eine Klinik auch nicht helfen.
Wir können helfen, dass Menschen nachreifen. Bei uns können Patienten für vier, sechs oder auch acht Wochen erleben, dass ihnen jemand zuhört, vertraut und ihnen hilft, ihr Leben zu ordnen. Solche Beziehungen sind heilsam.
Sie sind eine christliche Klinik in einem atheistischen Umfeld. Haben Ihre Patienten Glaubensfragen?
Die Mehrzahl unserer Patienten ist glaubenslos aufgewachsen. Etwa 90 Prozent sind konfessionslos. Auch viele unserer Mitarbeiter haben mit dem christlichen Glauben wenig Berührung. Deshalb bietet unsere Krankenhausseelsorgerin Themen wie „Was ist Ostern?“ und „Was ist Weihnachten?“ an. Einmal in der Woche gibt es einen Gottesdienst und für unsere Mitarbeiter eine Andacht.
Ärzte sollen behandeln und heilen. Wenn ein Arzt über Sinnfragen philosophiert, empfinden das viele als unseriös.
Wir verstehen uns als Wegbegleiter unserer Patienten. Es kann sein, dass mein Patient einen völlig anderen Weg geht, den ich nie vertreten könnte. Dann ist meine therapeutische Abstinenz gefragt. Ich drücke niemandem meinen Glauben auf, sondern stelle Fragen, gebe Hinweise, und wenn es sich anbietet, erzähle ich auch von meinem Glauben. Es gibt so etwas wie therapeutische Nähe, die braucht es für Beziehung.
Wie machen Sie das?
Ich erzähle gerne Geschichten und Gleichnisse aus der Bibel, weil sie zeitlos aktuell sind, zum Beispiel: „Sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“ (Matthäus 6,34).
Es gibt sehr reale Sorgen: Plötzlich stirbt der Partner an Krebs, das eigene Kind will nichts mehr von einem wissen, oder der Arbeitgeber meldet Insolvenz an.
Es gibt Situationen, da bin ich als Therapeut mit meinem Patienten verzweifelt. Dann erlaube ich mir auch, mit dem Patienten zu weinen. Meine Erfahrung ist aber, dass sich aus jeder Krise wieder ein Weg auftut, auch wenn ich diesen im Moment noch nicht erkennen kann. Es kommt also darauf an, wie man aus solchen Krisen herausgeht: gebrochen oder gestärkt. Mein Ziel als Arzt ist natürlich, den Patienten zu stärken.
Der Leitspruch Ihrer Klinik lautet: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36). Neben Tabletten und Therapien setzen Sie auf die Bibel.
Der christliche Glaube kann helfen, mit einer Krankheit klarzukommen, er kann sie aber auch verstärken. Manche christliche Patienten plagt das Gefühl der Gottverlassenheit, manche fühlen sich schuldig und sehen ihre Krankheit als Gottesstrafe.
Was sagen Sie dann?
Ich verweise auf Römer 8,38: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Gott hält zu uns, auch wenn wir das nicht immer spüren.
Welchen Trost haben Sie für Menschen, die keinen Trost im Glauben an Gott finden?
Viele profitieren von Achtsamkeits- und Entspannungsübungen und auch von christlichen Ritualen. Manchen empfehle ich, eine Wallfahrt auf dem Jakobsweg zu machen. Trauernden erzähle ich von Trauerritualen: dass Juden nach dem Tod eines Angehörigen sieben Tage schweigen und dass Katholiken ein Jahr Schwarz tragen – und danach wieder ins normale Leben zurückkehren. „Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit“, heißt es im Buch Prediger 3,4. Mit dem Patienten überlege ich dann, wie sein persönliches Trauerritual aussehen könnte – und an welchen Dingen im Leben er sich freuen kann.
Was muss ein Therapeut beachten, damit die Beziehung zum Patienten gelingt?
Es kommt darauf an, authentisch zu sein …
… authentisch bin ich auch, wenn ich schlechte Laune habe.
Als Therapeut werfe ich meinem Patienten – im übertragenen Sinne – Bälle zu, die er aufnimmt: Ich stelle Fragen, sage ihm, wie ich ihn wahrnehme, und manchmal widerspreche ich ihm auch. Mein Patient kann diese Bälle wegwerfen oder sie mir zurückwerfen. Durch diesen Austausch vertieft sich die Beziehung. Im Idealfall geht es dem Patienten dann wie den Emmaus-Jüngern, die nach der Begegnung mit dem auferstandenen Christus fragten: „Brannte nicht unser Herz?“ (Lukas 24,32).
Haben Sie Schlüsselfragen für solche Gespräche?
Drei Fragen stelle ich häufig: 1. Wie soll Ihr Leben in fünf Jahren aussehen? 2. Was gibt Ihrem Leben Sinn? 3. Was brauchen Sie, um lebendig zu sein?
Der Klinikchef und Psychotherapeut Christian Dogs schreibt in seinem Buch „Gefühle sind keine Krankheit“: „Statt auf mich selbst gut aufzupassen, bin ich mein Leben lang immer wieder über meine Grenzen gegangen … Ich habe meine Ehe vor die Wand gefahren und die Kindheit meiner Tochter nicht erlebt, obwohl ich in meinen Vorträgen und Beratungen stets betone, wie wichtig gerade die Ressource Familie ist.“
Ein Therapeut sollte die Ratschläge, die er seinen Patienten gibt, auch selbst leben. Klinikmitarbeiter vergessen häufig, dass sie selbst gefährdet sind auszubrennen. Nicht wenige Kollegen leiden am „Helfer-Syndrom“ und arbeiten dauerhaft über ihre Grenzen.
Wie wappnen Sie sich dagegen?
Von Jesus Christus liest man nirgendwo in der Bibel, dass er gehetzt war. Das ist mir zur Lebensmaxime geworden. Natürlich ist mein Tag als Klinikleiter sehr voll, aber ich versuche, meine Arbeit mit Ruhe auszuüben. Ich selbst habe auch einen Bruch in meiner Lebensgeschichte: Ich wurde vor vier Jahren geschieden und weiß, wie sehr ein Beziehungsabbruch prägt.
Was haben Sie daraus gelernt?
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte: Ich würde frühzeitig zu einer Eheberatung gehen, auch dann, wenn es gerade keine Krise gibt. In guten Zeiten fällt es viel leichter, an der Beziehung zu arbeiten, als wenn die Ehe schon einen Knacks hat.
„An der Beziehung arbeiten“ – das klingt so mühsam und unromantisch.
Für mich gehört dazu, sich einmal in der Woche hinzusetzen, darüber zu reden, was gut und was weniger gut gelaufen ist, und sich Ziele zu setzen. Das kann man aber nur, wenn der Partner nicht vor der Sportschau sitzt oder die Partnerin zwei Stunden lang mit der besten Freundin telefoniert. Diese gemeinsame Zeit halte ich für sehr wichtig.
• Christian Schäfer (51) ist seit 2012 Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Altenburg (Thüringen). Er studierte in Würzburg Medizin und absolvierte seine Facharztausbildung am Universitätsklinikum in Regensburg.