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Besseres Leben ohne Eltern – Jubiläum für SOS-Kinderdorf

Ein Zuhause für Kinder in Not: Das ist das Ziel des Vereins SOS-Kinderdorf. Vor 75 Jahren wurde das erste Haus in Österreich gegründet. Doch die klassische SOS-Kinderdorf-Mutter ist mittlerweile schwer zu finden.

Wenn Kinder ständig geschlagen werden, weil die Eltern mit ihrem eigenen Leben nicht fertig werden. Wenn Vater oder Mutter Alkoholiker sind. Wenn die Tochter vom Vater sexuell missbraucht wird. Oder wenn sich ganz einfach niemand darum kümmert, ob der sechsjährige Sohn regelmäßig in die Schule geht oder etwas zu essen bekommt.

Solche Fälle von Kindeswohlgefährdung werden laut Statistischem Bundesamt in Deutschland immer mehr: 2022 stieg die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um rund vier Prozent – rund 2.300 Fälle – auf fast 62.300.

Kinder und Jugendliche wie diese können oft nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben, sind zum Teil traumatisiert. Das Jugendamt nimmt sie deshalb aus ihren Herkunftsfamilien, um sie zu schützen und ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie werden anderweitig untergebracht – zum Beispiel in einem SOS-Kinderdorf.

“Wir wollen Kinder bei uns langfristig unterbringen, um die Bindungsstörung, die die meisten hinter sich haben, nicht zu verstärken”, sagt Nina Wunderlich, Verwaltungsleiterin von SOS Kinderdorf im ostdeutschen Gera. Zudem wird darauf geachtet, dass Geschwister möglichst zusammen aufgenommen werden – sie könnten gerade in Trennungssituationen Halt geben.

Kinder, deren Eltern verstorben sind, kommen demnach eher selten in ein SOS-Kinderdorf. “Meistens werden hier Alternativen in der Familie, etwa bei den Großeltern, gefunden”, sagt Wunderlich.

Dies war bei der Gründung vor 75 Jahren noch anders: Die Idee von Hermann Gmeiner (1919 bis 1986) war es ursprünglich, den vielen Kriegswaisen nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Zuhause zu geben. Da viele Kriegerwitwen einen Broterwerb suchten, kam er auf den Gedanken, diese Mütter und Kinder zusammenzubringen.

So entstand am 25. April 1949 der Verein SOS-Kinderdorf. Noch im gleichen Jahr legte Gmeiner in Imst in Tirol den Grundstein für das erste Haus. 1956 wurde das erste Kinderdorf in Deutschland, am Ammersee in Bayern eröffnet. Ziel war es, ein Zuhause für Kinder in Not zu schaffen, wo sie wie in einer Familie aufwachsen können mit einer SOS-Mutter. Es sollte das individuelle, behütete Aufwachsen in den Vordergrund stellen.

Insgesamt ist die Organisation heute in 137 Ländern aktiv. Es gibt Kindergärten, Schulen, medizinische Zentren, Nothilfe in Kriegs- und Katastrophengebieten – kürzlich wurde etwa das SOS-Kinderdorf in Rafah im Gazastreifen nach Bethlehem evakuiert.

36 Einrichtungen mit stationären Angeboten unterhält SOS-Kinderdorf in Deutschland. Dort sind mehr als 2.100 Kinder untergebracht – entweder in Kinderdorffamilien oder, was weitaus häufiger ist, in Wohngruppen.

Es gibt aber auch weitere pädagogische Angebote – ratsuchenden Eltern etwa bietet das SOS-Familienzentrum Berlin auch eine Online-Beratung an. Ob zu Einschlafproblemen ihres Babys oder Schwierigkeiten in der Beziehung: Mütter und Väter können ihre Fragen anonym per Mail oder in regelmäßigen Einzel-Chats an Experten stellen.

In Gera etwa gibt es vier Familienwohngruppen und gar keine Kinderdorffamilie im klassischen Sinn mehr. Dass sich Menschen immer weniger dafür begeistern lassen, Kinderdorf-Mutter oder -Vater zu werden, liege daran, “dass dies nicht mehr in die aktuelle Gesellschaft passt”, sagt Wunderlich. “Das ist mehr eine Berufung als ein Job. Kinderdorfmütter oder -väter leben und schlafen im Kinderdorf. Das bedeutet tiefgreifende Veränderungen im Alltag. Auch der Lebenspartner muss etwa hinter der Idee stehen.”

In den üblicher gewordenen Wohngruppen arbeiten die Betreuer im Schichtdienst, sind also – anders als die klassische Kinderdorfmutter – nicht Rund-um-die-Uhr bei ihren Schützlingen, sondern wechseln sich nach acht bis zehn Stunden ab. In Gera etwa betreuen fünf Betreuer abwechselnd acht Kinder, die zusammen in einer Gruppe leben. “Aber auch bei diesem ‘Doing-Family-Ansatz’ geht es darum, feste Bindungen und Beziehungen zu leben”, betont Wunderlich und verweist auf weitere Angebote in Gera: Die Mutter-Vater-Kind-Wohngruppe etwa und ambulante Hilfen für bis zu 40 Familien.

Grundsätzlich gebe es im Bereich des Kinderschutzes Personalmangel, sagte die Vorstandsvorsitzende des Vereins SOS-Kinderdorf, Sabina Schutter, unlängst in einem Interview mit der Tageszeitung “Die Welt”. Sie wünsche sich eine Imagekampagne für soziale Arbeit, Erziehung und Familienbegleitung: “Es gibt eigentlich keinen schöneren Beruf, als über Jahre hinweg ein Kind in seiner Entwicklung zu begleiten.”

Kinderdorf-Verwaltungsleiterin Wunderlich sagt: “Wir wollen unseren Kindern einen guten Start ins Leben ermöglichen. Sie haben schon einiges mitgemacht – und einfach viel in ihrem kleinen Rucksack dabei.”