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Berlinale mit Sozialdrama “Small Things Like These” eröffnet

Alle wissen Bescheid – und schweigen. Beim Auftaktfilm zur Berlinale geht es nicht nur um Verbrechen irischer Nonnen an jungen Mädchen. Sondern auch um das Schweigen der Menschen, die sich mit dem Bösen arrangieren.

Die Augen abzuwenden, ist in bestimmten Situationen keine Option. Wegschauen kommt für die am Donnerstagabend begonnene 74. Berlinale schon allein deshalb nicht in Frage, weil sich an der Einladung von fünf AfD-Mitgliedern zur Eröffnungsgala so viel Kritik entzündet hatte, dass die Berlinale-Leitung die fünf ausdrücklich wieder auslud.

So sah sich Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek am Donnerstagabend zu der ausführlichen Erklärung genötigt, dass das Festival ein Ort für intensiven Dialog, aber keineswegs für Hass sei. Ähnlich äußerten sich auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU).

Immerhin geriet die Eröffnungsfeier nicht in eine ähnliche Schieflage wie die Pressekonferenz wenige Stunden zuvor. Dort waren die Mitglieder der internationalen Jury penetrant zu politischen Statements gedrängt worden; das Desinteresse an ihren Künstler-Persönlichkeiten lag am Rande der Peinlichkeit.

Am Abend jedoch wurde bei allen politischen Stellungnahmen auch die Filmkunst nicht vergessen. Mit “Wir dürfen nicht wegschauen, die Filmemacher tun es auch nicht”, leitete Kai Wegner halbwegs elegant zum Ausblick auf das Berlinale-Programm über.

Nicht wegzuschauen – das ist auch das Thema des Eröffnungsfilms der 74. Berlinale. “Small Things Like These”, das Drama von Tim Mielants, spielt in einer irischen Kleinstadt in den 1980er-Jahren, in der die bieder-genügsamen Bürger Missverhältnisse beschweigen und damit letztlich tolerieren. Das betrifft die Armut, die nachts schon mal einen kärglich bekleideten Jungen dazu treibt, eine für Katzen bereitgestellte Milchschale leerzutrinken.

Vor allem aber werden in dem Ort systematisch Mädchen und junge Frauen misshandelt: Im örtlichen Kloster gibt es eine der berüchtigten Magdalenen-Wäschereien. Dass die Insassinnen dort eingesperrt, zu harter Arbeit gezwungen und bei Widerstand brutal bestraft werden, ist den Städtern ebenso bekannt wie gleichgültig – schließlich sind die Eingesperrten unverheiratet schwanger geworden oder einer prüden Gesellschaft in anderer Weise als “lasterhaft” aufgestoßen. Wer im Leben vorwärtskommen will, müsse gewisse Dinge eben ignorieren, sagt Eileen Furlong, die Frau des Kohlenhändlers Bill, einmal nachdrücklich.

Für Bill Furlong stellt sich die Gewissensfrage allerdings spätestens dann, als er bei einer vorweihnachtlichen Lieferung im Kohleschuppen des Klosters auf ein verstörtes, durchgefrorenes Mädchen stößt und von der eiskalten Oberin mit einer Mischung aus Beschwichtigung, versteckten Drohungen und offener Bestechung abgespeist wird.

Wie schon “The Quiet Girl” von Colm Bairead geht auch “Small Things Like These” auf eine Romanvorlage der irischen Autorin Claire Keegan zurück. Cillian Murphy, bekannt aus dem Film Oppenheimer, spielt Bill Furlong hochkonzentriert als einen Beobachter, der zwar oft den Kopf senkt oder mit Blicken ausweicht, dem aber keineswegs entgeht, was geschieht.

Die Kamera von Frank Van den Eeden greift das gespaltene Verhalten der Gesellschaft effektvoll auf: Sie setzt um den Protagonisten herum viele Unschärfen und unterstreicht mit ausweichenden Kameraschwenks die Ablenkungsmanöver der anderen Figuren.

Bill Furlong scheint der Einzige zu sein, dem die Heuchelei gegen den Strich geht. Generell ist Bill jemand, der sich sorgt und kümmert. Seine Arbeiter essen auf seine Kosten, einem verwahrlosten Jungen steckt er Geld zu. Für dieses Verhalten erntet er regelmäßig Kopfschütteln, sogar von seiner Frau. Seine Außenseiter-Rolle betont der Film auch visuell, indem er dem Hauptdarsteller mit der Kamera oft äußerst naherückt.

“Small Things Like These” gelingt es an vielen Stellen, die sehr sparsame Prosa von Claire Keegan in eindrückliche Bilder zu übersetzen. Eher vordergründig sind hingegen die Szenen im Kloster geraten, die sehr auf eine unheimlich-raunende Atmosphäre aus sind und mit biestigen Nonnen und zu Tode verschreckten Mädchen Horrorfilm-Flair verbreiten.

Frühere Filme und Serien haben sich den erst in den 1990er-Jahren endgültig geschlossenen klösterlichen Straflagern meist aus der Opferperspektive genähert. Auch in Mielants’ Romanadaption werden die Taten von Staat und Kirche verurteilt, die irische Gesellschaft aber nicht aus ihrer Mitverantwortung entlassen. Denn dass Bill Furlong in seinem moralischen Dilemma allein dasteht, ist die größte Schande dieser Geschichte. In diesem Fall ist Wegschauen nicht nur keine Option, es ist ein Verbrechen.