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Berlinale erkundet Familie als Ort von Schrecken und Hoffnung

Das Berliner Filmfestival dreht sich nicht nur im Bereich für Kinder und Jugendliche um Familien. Beiträge zum Thema in anderen Sektionen schwanken zwischen Langeweile und tiefer Erschütterung.

Familie ist einfach: Vater, Mutter, Kind, mehr braucht es nicht, könnte man meinen. Doch jeder weiß, dass es so nicht ist, oft sind Familien schrecklich, meistens notwendig, manchmal sogar beglückend. Eines aber sind sie in jedem Fall: ein fruchtbarer Boden für Geschichten. So ist es kein Wunder, dass auch in diesem Jahr das Kino der Berlinale nicht nur in den Sektionen für Kinder und Jugendliche um die Familie kreist.

Geradezu in Reinform führt David und Nathan Zellners “Sasquatch Sunset” aus der Sektion “Berlinale Special” die Keimzelle der Gesellschaft vor. Papa, Mama, Tochter, Sohn: So stapfen sie, ohne Kleider, ohne Worte, am ganzen Körper behaart, durch Täler und Höhen einer malerischen Waldeinsamkeit. Wer das Wort “Sasquatch” nicht kennt, erlebt die vier als Urmenschen zwischen Paradies und Neandertal. Sie futtern Gras, Blätter, Beeren, Pilze, widmen sich dem Erhalt ihrer Gemeinschaft durch Fellpflege und Fortpflanzung. Auch wenn Rausch, Dummheit und Machotum der urtümlichen Kleinfamilie erheblich zusetzen, bleibt die US-amerikanische Produktion einer der komischsten und liebenswertesten Berlinale-Beiträge der vergangenen Jahre.

Familie kann nerven, wie sich in Olivier Assayas’ entschieden unspannender Plänkelei “Hors du temps” (Außerhalb der Zeit) im Wettbewerb zeigt: Während des Corona-Lockdowns sitzen zwei Brüder in den Fünfzigern, Edelpariser aus dem Bereich Kultur und Medien, mit ihren Freundinnen im familiären Landhaus, spielen Tennis und langweilen – leider nicht nur sich, sondern auch die Zuschauer. In ihrem bourgeoisen Idyll kommt alles so lau und konfliktfrei daher, dass man sich nach den wilden Zeiten zurücksehnt, als Familien noch Typen vom Schlage eines Kains hervorbrachten.

So weit muss es nicht kommen, im Gegenteil, Geschwister können einander helfen und unterstützen. Gerade die Zukunftsstoffe von “Pendant ce temps sur Terre” (Währenddessen auf der Erde) im Panorama und “Another End” (Ein anderes Ende) im Wettbewerb setzen auf das enge Band zwischen Schwester und Bruder. Wenn die Wirklichkeit kollabiert, wenn die Realität sich auflöst, kann Neues entstehen, solange es Geschwister gibt; vielleicht sogar so etwas wie Glück. Ist das die heimliche Utopie dieser Berlinale?

Das Festival muss sich nicht um seinen Ruf sorgen, ein düsteres zu sein. Mit “Des Teufels Bad” bringen Veronika Franz und Severin Fiala die nötigen dunklen Töne und Farben in den Wettbewerb. Im Oberösterreich des Jahres 1750 bestimmen Frömmigkeit und Aberglauben das Leben der jungen Agnes (Anja Plaschg). Statt ihr Wärme und Sicherheit zu garantieren, weist die Familie, in die sie einheiratet, sie ab. Sie will sich das Leben nehmen, fürchtet aber die drohende ewige Verdammnis; in ihrer Verzweiflung bringt sie ein Kind um und beichtet den Mord. Als reuige Sünderin wird sie hingerichtet; ihre Seele aber, so glaubt sie, hat sie gerettet. Wenn die Familie versagt, bleiben immer die auf der Strecke, die keine Macht haben.

Was das bedeuten kann, zeigt der französische Dokumentarfilm “Une Famille” (Eine Familie) aus der Sektion “Encouters”. In ihm konfrontiert die Schriftstellerin Christine Angot ihre Angehörigen mit dem Inzest, den sie in ihrer Kindheit durch den Vater erlitt. Die erschütternde Begegnung mit ihrer Stiefmutter wird zum Zentrum des Films. Warum hat sie weggesehen, warum geschwiegen? “Ich wollte es nicht wissen”, sagt die alte Frau – die Familie als Hölle der Schwachen. Mit ihrem Film und ihren Büchern leuchtet Angot diesen Abgrund aus. So etwas wie Hoffnung, eine Spur von Trost erfährt sie durch ihre Tochter, die zur Sprache bringen kann, was sie fühlt: “Es tut mir leid, was dir passiert ist.”

Wo nicht gesprochen wird, wird Familie zum Schlachtfeld. Im “Panorama”-Film “Jia ting jian shi” (Kurze Geschichte einer Familie) lotet der chinesische Regisseur und Drehbuchautor Lin Jianjie aus, wie leicht die Konstellation Vater, Mutter, Kind kippen kann. Wei wächst in einer wohlhabenden Familie auf; mit den Eltern allerdings verbindet den Jugendlichen wenig. Als er seinen Schulfreund Shuo mit nach Hause bringt, zerbricht die fragile Ordnung der bürgerlichen Verhältnisse. Denn in dem smarten und strebsamen Shuo sehen Weis Eltern den Sohn, den sie gerne gehabt hätten; nach und nach setzt sich Shuo in der Familie fest.

Psychologisch genau inszeniert Lin Jianjie, wie sich die vier Protagonisten seines abgründigen Kammerspiels verändern. Deutlicher lässt sich kaum zeigen, wie der Schutzraum Familie zum Ort des Selbstbetrugs, der Kälte, der falschen Gefühle mutieren kann. So erzählt die Berlinale einmal mehr davon, dass Familie alles sein kann, was sich erdenken lässt. Nur eines ist sie wohl nie: einfach.