Artikel teilen:

Aufrecht. Mutig. Wegweisend

Vor 60 Jahren rief der Vormundschaftsrichter Lothar Kreyssig auf einer Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland die Aktion ins Leben. Ihre Botschaft nach den Kriegsgräueln damals wie heute: Frieden und Aussöhnung herbeiführen

© epd-bild / Aktion Sühnezeich

Er gehörte zu den wenigen Juristen, die offen Widerstand gegen die Verbrechen der Nationalsozialisten geleistet haben. Als Vormundschaftsrichter versuchte Lothar Kreyssig 1940, die unter seiner Obhut stehenden Behinderten und Kranken vor der Ermordung zu retten – und erstattete als einziger Richter in Deutschland Anzeige gegen die Verantwortlichen der „Euthanasie“-Aktion. Nach dem Krieg wirkte der Protestant in der evangelischen Kirche. Am 30. April 1958 rief er auf einer Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland die Aktion Sühnezeichen ins Leben.
Seine nur vier Minuten dauernde Ansprache gilt als Geburtsstunde der Aktion. Die Rahmenbedingungen waren alles andere als ideal: Nur 13 Jahre nach dem verheerenden Krieg hatte die Bundesregierung im Kalten Krieg entschieden, die Bundeswehr mit Trägersystemen für Atomraketen auszustatten. Ein weiterer Krieg war nicht auszuschließen. Lothar Kreyssig hatte eine andere Botschaft: Frieden und Aussöhnung herbeizuführen nach den durch die Deutschen verursachten Gräueln des Kriegs.
Während die Wirtschaftswundergesellschaft die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen wollte, erinnerte Kreyssig an den Holocaust und das große Leid, das Deutsche in vielen Teilen der Welt verursacht hatten. „Wir haben vornehmlich noch keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung ist“, erklärte er. Seine Vision: die Anerkennung der historischen Schuld für die Nazi-Verbrechen und die Überzeugung, dass der erste Schritt zur Versöhnung von den Tätern und ihren Nachkommen ausgehen müsse. Nur „wenn wir selbst wirklich vergeben, Vergebung erbitten und diese Gesinnung praktizieren“, könne Frieden entstehen.
Der Jurist hatte offenbar ein feines Gespür für das, was anstand, und einen großen Gerechtigkeitssinn. Der 1898 im sächsischen Flöha geborene Kaufmannssohn studierte Jura in Leipzig, wurde 1926 in Chemnitz in den Justizdienst übernommen, zwei Jahre später als Richter. Dass er später mutig dem NS-Unrechtsregime die Stirn bot, war nicht selbstverständlich.
Ursprünglich war er nationalistisch gesinnt, wählte vor der Machtergreifung Hitlers die NSDAP, ver-hielt sich zunächst systemkonform und wurde auch Mitglied im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen. Doch Kreyssig war auch evangelischer Christ – und hatte einen wachen Blick für die Entwicklungen. Gedrängt, der NSDAP beizutreten, weigerte er sich unter Berufung auf seine richterliche Unabhängigkeit. 1934 wurde er Mitglied der Bekennenden Kirche Sachsens, ein Jahr später deren Präses.
Im Zuge der NS-Herrschaft häuften sich die Todesfälle zahlreicher seiner behinderten Mündel. Kreyssig hatte den Verdacht, dass diese systematisch ermordet würden. Im Sommer 1940 beschwerte er sich beim Reichsjustizminister. Als er erfuhr, dass Hitler die Euthanasie-Aktion veranlasst hatte, zeigte Kreyssig Reichsleiter Philipp Bouhler wegen Mordes an. Zugleich verbot der Rich-ter die Verlegung seiner Schutzbefohlenen in Tötungsanstalten. Da er sich Hitlers Rechtsverständnis nicht beugen wollte, wurde er zunächst zwangsbeurlaubt und 1942 in den Ruhestand geschickt.

Ideengeber für „Brot für die Welt“ und Telefonseelsorge

Nach dem Krieg bekleidete er verschiedene Kirchenämter, war unter anderem Synoden-Präses der Kirchenprovinz Sachsen und Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Auf Kreyssig, der 1986 starb, gehen viele gesamtdeutsche kirchliche Einrichtungen und Ideen zurück, etwa die Telefonseelsorge und „Brot für die Welt“.
Am bedeutendsten aber war die Aktion Sühnezeichen. An deren Versöhnungsprojekten in den ehemals von Deutschland besetzten Ländern und in Israel haben sich seit 1958 über 10 000 junge Freiwillige beteiligt. Doch mit der Aussöhnung vergangenen Unrechts ist es nicht getan – auch heute fühlt sich die Aktion Sühnezeichen verpflichtet, für die Gräuel des Nationalsozialismus und die Schoah zu sensibilisieren und das Gedenken wachzuhalten – auch und gerade angesichts des Erstarkens rechten Gedankengutes. Lothar Kreyssig hat damals Haltung und Zivilcourage bewiesen. Für den derzeitigen Vorstandsvorsitzenden Stephan Reimers ist er auch heute noch ein Vorbild.