Artikel teilen:

Aufbruch in ein neues Leben

Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven macht Migration und Flucht anhand von persönlichen Geschichten erlebbar. Und es zeigt, dass Deutschland schon seit Jahrhunderten ein Aus- und Einwanderungsland ist. Ein Besuch im Auswandererhaus

Ein Morgen am Meer. Kalt ist es und dunkel, ein unangenehmer Wind bläst den vor dem knarrenden Schiff Wartenden ins Gesicht. Ihre Habseligkeiten haben die Männer, Frauen und Kinder in ein paar Koffern verstaut: Gleich werden sie ihre Heimat für immer verlassen, um Not und Elend zu entfliehen. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft in der Fremde – doch was sie tatsächlich dort erwartet, ist ungewiss.

Besucher unternehmen eine Zeitreise

Die Szene könnte aus einem der Küstenorte in der Türkei, in Libyen oder einem anderen nordafrikanischen Land stammen, aus denen derzeit jeden Tag unzählige Menschen zu einer lebensgefährlichen Bootsfahrt Richtung Westeuropa starten. Tatsächlich handelt es sich jedoch um die erste Station einer Zeitreise, die Besucher des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven unternehmen: die Abfahrt des Schnelldampfers „Lahn“ von Bremerhaven nach New York im Jahr 1888.
Mehr als 7,2 Millionen Menschen wanderten zwischen 1830 und 1974 über die norddeutsche Küstenstadt in die „Neue Welt“ aus, davon rund 3,8 Millionen Deutsche. Seit zehn Jahren präsentiert das preisgekrönte Erlebnismuseum seinen Gästen Ursachen für Migrationsbewegungen sowie individuelle Familiengeschichten, anhand derer sich die unterschiedlichen Schicksale im wahrsten Sinne des Wortes begreifen lassen.
„Wir vermitteln das Thema Migration nicht durch Objekte in Glasvitrinen, sondern über Emotionen“, erläutert Christoph Bongert aus der Abteilung Projektentwicklung Wissenschaft. Detailgenaue Rekonstruktionen und multimediale Inszenierungen sorgen dafür, dass sich die Besucher an historische Orte versetzt fühlen.
Und das kommt an, wie die mehr als zwei Millionen Gäste belegen, die das Museum seit seiner Eröffnung im Jahr 2005 schon gezählt hat. Wer die eingangs geschilderte Szenerie am Kai passiert hat, betritt anschließend selbst das Auswandererschiff, auf dem die Bedingungen der Überfahrt zu unterschiedlichen Epochen erlebbar werden. Über einen schiefen Boden, der schwanken lässt, geht es unter anderem vorbei an düsteren Kojen, in denen Menschen dicht an dicht liegen – hustend, röchelnd, schnarchend.
Immer mit dabei: der „Boarding Pass“, den jeder Besucher am Eingang löst und der ihn an verschiedenen Stationen die reale Biographie eines „echten“ Auswanderers nachvollziehen lässt. Da ist zum Beispiel die Ärztin Hertha Nathorff aus dem schwäbischen Laupheim, die unter den Nationalsozialisten alles verlor und schließlich 1939 von Bremerhaven über London nach New York floh. „Wie gerne hätte ich noch eine warme Jacke“, notierte sie vor der Abfahrt in ihr Tagebuch. „Ich habe ein Vermögen auf der Bank und kann nichts damit anfangen.“ Ihre Fassungslosigkeit ist förmlich zu spüren, als es kurz darauf heißt: „Heimatlos. Ohne Aussicht, meinen geliebten Beruf je wieder ausüben zu dürfen. Was tat ich, dass mir so geschah?“
Wirtschaftliche Motive, Krieg, politische, rassische oder religiöse Verfolgung – und manchmal auch die pure Abenteuerlust: Die Gründe, Deutschland zu verlassen, waren schon immer vielfältig. Allein im Spitzenjahr der ersten deutschen Massenauswanderung 1854 erreichten weit über 200 000 Emigranten die USA – wo sie keineswegs durchgängig mit offenen Armen empfangen wurden. Bereits hundert Jahre vor-her hatte Benjamin Franklin, einer der amerikanischen Gründerväter, über die „Pfälzer Bauernlümmel“ gelästert: Sie machten aus Pennsylvania eine Kolonie von Fremden und würden niemals die Sprache und Gewohnheiten der Einheimischen annehmen. „Die Ähnlichkeit zu heutigen Aussagen ist schon frappierend“, meint Historiker Bongert.
Zurück ins Auswandererhaus. Nach erfolgreicher Überfahrt nähert sich der Besucher dem entscheidenden Moment: der Befragung durch die amerikanischen Behörden auf Ellis Island. Hier wird bestimmt, wer bleiben darf und wer nicht. In dem kahlen und grell beleuchteten Gang, der zur Einwanderungsstation führt, steigt unwillkürlich die Anspannung. Der über Lautsprecher eingespielte Pulsschlag wird immer schneller. „Man wird plötzlich vom Auswanderer zum Einwanderer und bleibt doch derselbe Mensch“, macht Bongert deutlich.
Es ist ein Spiel mit den Perspektiven, zu dem das Museum seine Gäste einlädt. Und so ist es nur konsequent, dass in einem Erweiterungsbau seit 2012 auch 300 Jahre deutscher Einwanderungsgeschichte präsentiert werden. Eine Ladenpassage bietet die Möglichkeit zur Spurensuche: Warum sind Menschen nach Deutschland gekommen? Was haben sie mitgebracht? Wie haben sie sich hier eingelebt?
Vor einem Kiosk hängen Tageszeitungen vom 24. November 1973 – jenem Tag, nachdem die Bundesregierung den Anwerbestopp für Arbeitskräfte aus dem Ausland verkündet hatte. Rund 14 Millionen sogenannte Gastarbeiter waren seit 1955 nach Deutschland gekommen, mehr als 11 Millionen gingen nach einiger Zeit wieder zurück in ihre Heimat. Die anderen blieben und holten ihre Familien nach.

Offenheit für die neuen Mitmenschen

„Wir versuchen ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Einwanderung irgendwann unsichtbar wird“, sagt Christoph Bongert und nennt als einprägsames Beispiel die Essgewohnheiten. So seien etwa Spaghetti hierzulande Ende der 1950er Jahre noch exotisch gewesen, in manchen Kantinen habe es gar Anleitungen gegeben, „wie der Italiener seine Nudeln kocht“. Heute könne man darüber nur noch lächeln.
Grundsätzlich sei es wichtig, dass sich Menschen mit ihren neuen Nachbarn und deren Geschichten befassten und ihnen gegenüber offen seien: Das gelte in Zeiten der aktuellen Flüchtlingskrise mehr denn je. Bongert: „Im Auswandererhaus wollen wir dazu beitragen, Ängste und Sorgen in Neugierde umzuwandeln.“

Das Deutsche Auswandererhaus (Columbusstraße 65) ist täglich von 10 bis 17 Uhr, ab März täglich bis 18 Uhr geöffnet. Telefon: (04 71) 90 22 00, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de. Informationen im Internet: www.dah-bremerhaven.de.