Artikel teilen:

Auf der Welle reiten lernen

Das Wirtschaftsleben ist zunehmend geprägt von Unsicherheit, Komplexität und Unberechenbarkeit. Als Antwort auf die Herausforderungen können auch spirituelle Praktiken wichtig werden

Konstantin Hermann - stock.adobe

FRANKFURT A. M. – „Die Welt da draußen hat sich geändert“, sagt der Coach und Unternehmensberater Torsten Schrör. Nichts ist mehr sicher, eindeutig und einfach, Planung wird zunehmend schwierig, Veränderungsprozesse werden immer schneller, wie der Ex-Bertelsmann-Manager auf der Fachtagung „Achtsamkeit am Arbeitsplatz“ im April in Frankfurt am Main schilderte. Das alte Paradigma von Führungskräften „ich weiß, wie es geht“ werde abgelöst. Heute gehe es vor allem darum, Unsicherheiten auszuhalten. Weil die Herausforderungen des Alltags zunehmen, seien Gegenpole wie Innehalten, Entschleunigung, Achtsamkeit und Stille umso wichtiger.

Selbstheilungskräfte aktivieren

„Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber du kannst lernen, darauf zu reiten“, lautet das Grundprinzip von Jon Kabat-Zinn. Der 73-jährige Verhaltensmediziner aus den USA entwickelte bereits in den 70er Jahren ein Programm zur Reduzierung von Stress und zur Stärkung des Immunsystems auf der Grundlage von Achtsamkeitsübungen.
Durch die Aktivierung der Selbstheilungskräfte sollen Menschen mit psychischen Problemen und Schmerzen besser fertig werden. Das Anti-Stress-Programm MBSR („Mindfulness based stress reduction“) wird inzwischen weltweit im Gesundheitsbereich, in pädagogischen und sozialen Einrichtungen sowie  in Unternehmen angewendet.
Wie geht Achtsamkeit? Es sei wichtig zu lernen, mitten im Alltag zur Besinnung und in Kontakt mit sich selbst zu kommen, sagt Rüdiger Standhardt, Initiator der Tagung, Coach und Leiter des Forums Achtsamkeit in Gießen. Das heiße konkret, „in Verbindung zu sein mit meinem Atem“, egal was man gerade mache. Es sei wichtig, im Laufe des Tages immer wieder kleine Pausen einzulegen, drei Minuten am Vormittag, Mittag und Nachmittag reichten für den Anfang. Standhardt: „Das ist kostenlos, dazu brauchen Sie keine Bücher oder CDs. Das ist immer da.“
Man könne seine Mitmenschen nicht ändern, nicht die Kollegen, Chefs oder Mitarbeiter, unterstrich der klinische Psychologe und Achtsamkeitsforscher Harald Walach auf der Tagung. „Das Einzige, was wir verändern können, ist unser eigenes Bewusstsein.“ Gegen eine zunehmende Kultur der Zerstreuung und Ablenkung müsse man den eigenen Geist pflegen: „Ein aufgeräumter Geist ist die Basis für alles andere.“
Walach widerspricht der immer wieder laut werdenden Kritik, Programme zum Stressabbau wie Achtsamkeitsübungen würden die Menschen lediglich fitter für den Job machen, ohne tatsächlich etwas an der Situation zu ändern. Achtsamkeit sei aber „kein Werkzeug zur Selbstoptimierung“. Meditation und Achtsamkeit sind Walach zufolge vielmehr „Quellen für Inspiration und Kreativität und treiben den Entwicklungsprozess von Einzelnen und sozialen Systemen voran“.
Wie zerstreut viele durchs Leben gehen, ist wissenschaftlich belegt: Einer Harvard-Studie zufolge verbringen Menschen – die meisten Befragten kamen aus dem westlichen Kulturkreis und waren zwischen 18 und 88 Jahre alt – rund 47 Prozent ihrer wachen Zeit damit, an etwas anderes zu denken als an das, was sie gerade tun. Sie verbringen ihr Leben in einer Art Auto-Pilot-Modus. Dieses gedankliche Abschweifen macht „die Leute unglücklich“, so die Forscher. Sie denken über Dinge in der Vergangenheit nach oder grübeln darüber, was in Zukunft passieren könnte – was aber meist nie eintrifft.
Dagegen lehrten viele philosophische und religiöse Traditionen, dass man das „Glück finden kann, indem man im Moment lebt“, heißt es in der Harvard-Studie. Es gehe darum, durch bestimmte Atemübungen, Meditation im Sitzen und Gehen achtsam im Augenblick zu werden und sich dabei zu entspannen, um den Herausforderungen des Lebens besser begegnen zu können. Das wirkt sich auch auf den Umgang mit anderen aus.

Sich selbst und andere führen lernen

Ein Beispiel für Veränderung durch eine neue Bewusstseinskultur ist das Unternehmen Upstalsboom, ein Ferienanbieter an Nord- und Ostsee mit rund 70 Hotels. „Der Upstalsboom Weg“ gilt inzwischen als Vorbild für eine neue wertschätzende Unternehmensphilosophie. Führungskräfte konnten im Rahmen von Klosteraufenthalten für sich erkennen, dass Führungsarbeit zunächst bei sich selbst beginnt, heißt es bei Upstalsboom. Dazu diente auch Meditation. Begriffe wie Achtsamkeit, Disziplin, Dankbarkeit und Demut hätten eine Rolle gespielt: „Wir haben erkannt, dass nur, wer sich selbst führen kann, auch andere führen kann.“
Nicole Stern gilt als Pionierin im Bereich Achtsamkeit in der Arbeitswelt. Die Beraterin, Meditationslehrerin und Autorin („Das Muße-Prinzip – Wie wir wirklich im Jetzt ankommen“) vermisst den „Spirit“ in vielen Unternehmen. Es fehle die Rückbindung an Werte. Viele Unternehmen hätten das rechte Maß verloren. Die Rückbesinnung auf das, „was uns in der Tiefe trägt“, sei hingegen ein Heilmittel gegen Stress und Unzufriedenheit.