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Auf der Suche nach den Wurzeln

„Flichtling“ spotteten Einheimische in der jungen Bundesrepublik über die Mundart der Vertriebenen. Zwölf Millionen Menschen waren aus den östlichen Gebieten des ehemaligen deutschen Reichs geflohen. Eine Reise in die frühere Heimat der Großeltern

„Oma, erzähl noch mal, wie du und der Opa euch verlobt habt.“ Die Enkel kennen die Geschichte in- und auswendig. Sie wollen sie trotzdem immer wieder hören. „Das war in Breslau“, beginnt die Großmutter. „Der Opa und ich haben uns im Scheitniger Park getroffen. Ich bin extra mit der Bahn von Striegau nach Breslau gefahren.“ „Das musst du anders erzählen“, protestieren die Enkel. „Erst kommt doch, wie du den Opa beim Skifahren im Riesengebirge kennengelernt hast.“
Riesengebirge. Den Namen kennen die Enkel, auch wenn sie keine Vorstellung davon haben, wo es liegt. Genauso ist es mit Breslau, Striegau und Schlesien. Mit ihren zehn, zwölf Jahren wissen sie: Das gehörte früher zu Deutschland. Dort lebten die Urgroßeltern. In Striegau ging die Großmutter zur Schule, hat mit Anfang 20 die Mutter geboren und ist von dort mit drei Kindern 1945 geflohen. Von „Schlösien“, wie die Großmutter sagte, nach Unterfranken.

Aus Schlesien nach Bayern geflohen

Ich bin einer dieser Enkel, die die Erzählungen von Omas und Opas Kennenlernen nicht oft genug hören konnten. „Kriegsenkel“ ist mittlerweile ein Name für meine Generation. Wie so viele meines Alters mit einer Vertriebenen-Familiengeschichte wollte ich die Orte sehen, aus denen meine Vorfahren mütterlicherseits kamen. Die Großmutter ist vor einigen Jahren gestorben. So stehe ich nun mit meinen Eltern in jenem Scheitniger Park, in dem Oma und Opa ihr Stelldichein hatten.
Auf einem dieser Wege in dem großen öffentlichen Garten gingen die beiden vor gut 80 Jahren Arm in Arm. Er gab vor, er müsse seine Schnürsenkel binden. „Geh du nur ein paar Schritte vor“, sagte er zu ihr. Er wollte sehen, ob die Naht ihrer Strümpfe gerade sitzt. Eine schiefe Naht wäre für ihn ein Zeichen von Nachlässigkeit gewesen, und er wollte eine ordentliche Frau. Die Naht saß perfekt. Zum Glück für meine Großmutter – und für uns Enkel.

1938 hofften die Großeltern noch auf Frieden

Warum will man sehen, wo die Mutter oder der Vater geboren wurde? Ist es wichtig für das eigene Leben zu wissen, wie die Vorfahren gelebt haben? Was sie gedacht, geliebt und getan haben? Und wie standen die Großeltern zum Nazi-Regime? Wie haben sie die Zeit erlebt?
Meine Großeltern haben Ende 1938 geheiratet. Sie hofften auf den Satz, den der britische Premierminister Neville Chamberlain nach dem Münchner Abkommen gesagt hatte: „Peace in our time!“ („Friede in unserer Zeit!“). Im selben Jahr schlugen, verhafteten und töteten die Nationalsozialisten Juden bei den Novemberpogromen. Auf offener Straße, für alle sichtbar. Ein Jahr später griff Hitler-Deutschland Polen an und begann den Zweiten Weltkrieg. Das Konzentrationslager Groß-Rosen liegt nur ein paar Kilometer von dem Herkunftsort der Großmutter entfernt. „Wir haben schon gewusst, dass die in den Steinbrüchen hart arbeiten müssen“, hat sie erzählt. „Aber von den Verbrechen dort haben wir nichts gewusst.“
Ich stehe mit meinen Eltern vor dem Haus, in dem meine Mutter 1940 geboren wurde. Eine Ausfallstraße in Striegau, dem heutigen Strzegom. Früher war sie wohl auch nicht schöner. Der Verkehr nach Liegnitz fuhr auch damals hier vorbei. Im ersten Stock des grauen Hauses war die Großmutter „Backfisch“. So nannte man damals Teenager. Im Eckzimmer wurde die Mutter geboren. Zweiter Weltkrieg, Ostblock, kalter Krieg, die Wende 1989 – das alles ist an dieser Straße vorbeigezogen. Aber die Steinpfosten des Gartenzauns stehen nach wie vor und sehen aus wie auf den alten Fotografien.
Was ist sonst geblieben? Bei meiner Mutter die Angst, verloren zu gehen. Sie war fünf Jahre alt, als meine Großmutter mit ihr und ihren noch jüngeren Schwestern vor dem Krieg geflohen ist. Im Menschengewimmel des Leipziger Hauptbahnhofs sah die Kleine vor lauter Beinen ihre Mutter nicht mehr. Sie wollte in die falsche Richtung laufen. Ein aufmerksamer Passant schob sie freundlich zurück: „Da gehörst du hin, Mädchen.“ Wenn dieser Mann nicht gewesen wäre, ihr Leben wäre anders verlaufen. Und das meine auch.
Vielleicht ist das der Grund, warum man sich irgendwann auf Spurensuche an die Herkunftsorte von Eltern und Großeltern begibt. Die Wendepunkte und Weichenstellungen in deren Leben beeinflussen auch das eigene. Die Vergangenheit wirkt nach im Schlechten wie im Guten. Entscheidend ist, ob man sich von ihr bestimmen lässt oder sie als Quelle versteht, um die Geschichte der Vorfahren und dabei auch sich selbst besser zu verstehen. Die Menschen in der Bibel hatten ein feines Gespür dafür, wie sich die Taten und Erlebnisse der Mütter und Väter auf die kommende Generation auswirken können. „Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden.“ (Jeremia 31,29) So wird im Alten Testament die Erfahrung beschrieben, dass jemanden prägt, was die Vorfahren ihm oder ihr mitgeben – über die Dauer des eigenen Lebens hinaus. „Bis ins dritte und vierte Glied“ sucht Gott die Missetat der Väter an den Kindern und Kindeskindern heim, heißt es in den Zehn Geboten (2. Mose 20,5).

Kriegserlebnisse prägen Generationen

Das klingt, als wäre Familiengeschichte ein Schicksal, dem man nicht entrinnen kann. Aber man hat tatsächlich daran zu knabbern, wie Eltern und Großeltern sich verhalten haben, wie viel Liebe und welches Erbe an Eigenschaften sie einem mitgeben. Wer sich auf Spurensuche der Vorfahren begibt, wird mehr darüber erfahren, wie sie waren. Ganz anders als man selbst, doch mitunter auch erstaunlich ähnlich. Das hilft zur Selbsterkenntnis. Der Psychologe Michael Ermann, der an der Universität München die Spätfolgen deutscher Kriegskindheiten untersucht hat, sagt: „Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens – ohne diese gibt es keine positive Identität.“
Es sind zum Glück nicht nur die Missetaten und schweren Erlebnisse, die ganze Generationen prägen. Die Menschen in der Bibel erinnern sich vor allem an die befreienden Erfahrungen. Die Befreiung des biblischen Israels aus der Sklaverei in Ägypten liegt bereits Jahrzehnte und Jahrhunderte zurück. Trotzdem rufen die Menschen der Bibel sie von Generation zu Generation lebendig ins Gedächtnis. Gott befreit aus allem, was einen gefangen hält. Diese Erfahrung haben die Vorfahren gemacht und sie gilt auch für uns heute, so das Glaubensbekenntnis im Alten Testament. Darum zählen biblische Autoren in langen Geschlechterregistern auf, wer von wem abstammt.

Befreiende Erfahrungen sind möglich

Die Christen in den Generationen nach den ersten Jüngern Jesu sprechen im Neuen Testament von der „Wolke der Zeugen“, die die Glaubensbiographie jedes Einzelnen umgibt (Hebräer 12,1). Die Grunderfahrung, die hier eine Generation an die nächste vererbt, ist der Glaube an die Auferstehung von den Toten. Nicht der Tod, sondern das Leben prägt einen Menschen. Das ist der biblische Kompass für die Spurensuche in der Vergangenheit: Missetaten nicht verschweigen, die Erfahrung von Befreiung und Auferstehung in der eigenen Biographie weiterschreiben.
Ich bin in Schlesien im heutigen Polen auf Vorfahren gestoßen, die waren Ofensetzer, Bergbauingenieure, Schatzmeister, Pfarrer – und Rhododendronzüchter. Besonders der Letzte hat mich überrascht. Bei meinem schwarzen Daumen.