Die Gewalt gegen den jüdischen Studenten Lahav Shapira gehört zu den extremen Fällen. Häufiger sind kleinere Vorfälle gegenüber Juden im Alltag – was sich dennoch stark auf deren Lebensführung auswirkt, so ein Bericht.
Von Beleidigungen bis hin zu Anschlägen: Die Zahl antisemitisch motivierter Vorfälle in Deutschland ist einem Bericht zufolge erneut drastisch gestiegen. 2024 dokumentierten Meldestellen 8.627 Vorfälle – ein Anstieg um fast 77 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wie aus dem am Mittwoch vorgestellten Jahresbericht des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) in Berlin hervorgeht.
Demnach passierten rechnerisch knapp 24 antisemitische Vorfälle pro Tag im Vergleich zu 13 pro Tag im Jahr 2023 (4.886 Vorfälle). Rias dokumentiert auch Vorkommnisse, die keine Straftaten sind. Bekannt wurden Rias unter anderem 8 Fälle extremer Gewalt, 186 Angriffe und 300 Bedrohungen. Für Jüdinnen und Juden bleibe Antisemitismus hierzulande ein “alltagsprägendes Phänomen”, so die Bilanz.
Zu den Fällen extremer Gewalt rechnet Rias den Anschlag auf das Solinger Stadtfest im August mit drei Toten. Die Begründung: Im Nachgang habe die Terrormiliz “Islamischer Staat” (IS) die Tat für sich reklamiert und ein Video veröffentlicht, in dem auch ein Bezug zum Krieg zwischen Israel und der Hamas hergestellt worden sei.
Als extreme Gewalt wird auch der Angriff auf den jüdischen Studenten Lahav Shapira in Berlin angeführt, der international für Schlagzeilen sorgte. Ein Gericht sah antisemitische Motive und verurteilte den Angeklagten im April dieses Jahres zu drei Jahren Haft wegen gefährlicher Körperverletzung.
Auch im vergangenen Jahr hätten der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der folgende Gazakrieg zum Anstieg der Zahlen beigetragen. Es sei zudem zu beobachten, dass die von den Angreifern begangene sexuelle Gewalt geleugnet werde. “Israelbezogener Antisemitismus war mit 5.857 Zuordnungen 2024 die häufigste inhaltliche Erscheinungsform von Antisemitismus.”
Was das Spektrum angeht, von dem Antisemitismus ausgeht, verzeichnete Rias nach eigenen Angaben die bisher höchste Zahl antisemitischer Vorfälle mit einem rechtsextremen Hintergrund (544) seit Beginn des bundesweiten Vergleichs 2020.
Die Tatorte insgesamt sind laut Bericht mit großem Abstand die Straße und das Internet. Auch sei eine Zunahme von Vorfällen an Hochschulen zu beobachten gewesen. Antisemitismus komme etwa in Aufklebern zum Vorschein, bei Angriffen auf Teilnehmer von Mahnwachen für die Geiseln aus Israel und Beschädigungen von Zeichen zur Schoah-Erinnerung.
Der Geschäftsführer des Rias-Bundesverbands, Benjamin Steinitz, erklärte, gerade jetzt dürften jüdische Perspektiven durch politische Grabenkämpfe nicht wegdefiniert und weiter marginalisiert werden. Der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, sagte, es sei sehr schwierig, das Problem an der Wurzel zu packen. Soziale Medien seien Brandbeschleuniger. Er wolle sich bei der neuen Bundesregierung dafür einsetzen, dass Gesetze nicht nur offline, sondern auch online gelten müssten.
Ron Dekel, Präsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, erklärte, israelbezogener Antisemitismus sei bedrohlich für Jüdinnen und Juden in Deutschland, weil sie oft fälschlicherweise für Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht würden.
Der Rias-Bundesverband ist der Dachverband von Meldestellen in elf Bundesländern. Wer Antisemitismus erlebt oder beobachtet, kann sich an diese Stellen wenden. Rias geht von einer großen Dunkelziffer aus. Der Verband weist darauf hin, dass die Zahlen des Jahresberichts nicht darauf schließen ließen, wie viele Menschen in der Gesamtbevölkerung antisemitisch dächten oder handelten.
Erst kürzlich hatte das Bundeskriminalamt (BKA) bei den antisemitisch motivierten Straftaten ebenfalls einen neuen Höchststand verzeichnet: um knapp 21 Prozent auf rund 6.200 (Vorjahr: 5.200). Mit 48 Prozent wurden knapp die Hälfte der Fälle dem rechten Bereich zugeordnet und fast ein Drittel ausländischer Ideologie. Auch das BKA sieht einen Zusammenhang zwischen Anstieg der Zahlen und dem 7. Oktober 2023.