Zigarettenqualm wabert durch den Raum. Mehrere Männer und Frauen sitzen an den Tischen, rauchen, trinken Kaffee oder ein Bier. Der Tagesaufenthalt für wohnungslose Menschen in der Bielefelder Innenstadt ist an diesem Morgen die erste Station für Ärztin Barbara Kroll. Mit einem Medikamentenkoffer und ihrem Rucksack betritt sie den Aufenthaltsraum und wird schon bald angesprochen. Einem bärtigen Mann fällt ein, dass sein Herzmittel alle ist. Und ein schmächtiger Mann krümmt sich und zeigt auf seinen Bauch. Der Magen schmerzt. „Können Sie Tabletten geben?“
Zum Arzt zu gehen, das wäre für ihn vermutlich genauso undenkbar wie für viele andere hier auch. Manche Besucher haben keine Krankenversicherung oder wissen nicht, wo sie ihre Versichertenkarte haben. Andere schämen sich, mit einer Alkoholfahne und dreckiger Kleidung im Wartezimmer zu sitzen. Also kommt Barbara Kroll zu ihnen. Seit 20 Jahren ist sie als „Streetmed“-Ärztin in Bielefeld unterwegs, steht mit ihrem zur rollenden Arztpraxis umgebauten Wohnmobil auf öffentlichen Plätzen, besucht Notunterkünfte und Beratungsstellen.
1996 gehörte Bielefeld mit Dortmund, Köln und Münster zu den ersten Städten in Nordrhein-Westfalen, die eine niedrigschwellige, aufsuchende Gesundheitsfürsorge für Wohnungslose als Landesmodellprojekt starteten. Inzwischen ist das „Streetmed“-Angebot der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel Teil der gesundheitlichen Regelversorgung. „Ich kann Rezepte und Überweisungen ausstellen, so wie jeder andere Hausarzt auch“, sagt Kroll. Pro Quartal zahlt die Kassenärztliche Vereinigung eine Pauschale für 129 Patienten, ohne Nachweis der Versicherung. Im Schnitt behandelt die Allgemeinmedizinerin 150 Menschen in „besonderen Lebenslagen“, wie es offiziell heißt.
Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) gibt es heute bundesweit rund 20 solcher medizinischer Ambulanzen. In Hannover ist neben der Streetmed auch eine Zahnarztpraxis auf vier Rädern für Wohnungslose unterwegs. In NRW sind nunmehr zehn mobile Ärzte-Teams regelmäßig im Einsatz, etwa in Bonn, Essen, Gelsenkirchen und Solingen.
Das Bielefelder „Streetmed“-Team hat sich Vertrauen und Respekt in der Szene erworben. Über die Tabletten für den Magen oder beim Versorgen einer Wunde sei der Zugang zu den Menschen sehr unkompliziert, sagt Krankenschwester Sarah Gevers, die sich seit einigen Monaten die Stelle mit Barbara Kroll teilt. Rund 150 Obdachlose gibt es in der rund 300 000-Einwohner-Kommune. An die 1000 weitere Menschen leben dort in ungesicherten Wohnverhältnissen, Tendenz steigend. Zunehmend seien jüngere Menschen und Migranten auf Hilfe angewiesen, weiß Kroll.
Viele von Krolls Patienten haben chronische Krankheiten, die durch die Lebensumstände noch verschärft werden. „Wer keinen festen Wohnsitz hat, kann sich nicht so einfach ausruhen, sich um seinen Körper oder gesunde Ernährung kümmern“, erklärt die Ärztin. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Verschleißerscheinungen seien an der Tagesordnung. Hinzu kämen die Folgen von Alkohol- und Drogenkonsum sowie psychische Erkrankungen.
Barbara Kroll ist inzwischen in einem kleineren Behandlungsraum im Keller der Bielefelder Obdachlosen-Einrichtung angekommen und schaut sich das entzündete Bein eines 54-Jährigen an. Anschließend will sie mit dem Mann über ein Wohnprojekt reden, in dem sie ihm einen Platz vermitteln möchte. Derzeit lebt der Bielefelder, der sich Tobi nennt, auf einem Campingplatz. Er will unbedingt dort bleiben.
Ihre Patienten seien oft eigenwillig, erzählt Kroll. Ihr sei es aber wichtig, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, sie zu beraten und aufzuklären, bevormunden wolle sie ihre Patienten nicht. „Ich kann dem Alkoholiker nicht sagen, hör auf zu trinken. Aber ich kann mit ihm über einen gesundheitsverträglicheren Konsum reden.“ Bei Tobi will sie weiterhin am Thema dranbleiben.
Die „Streetmed“-Ärztin begleitet obdachlose Menschen auch in der letzten Lebensphase. Dafür hat sie eigens eine Zusatzausbildung in der Palliativmedizin gemacht. „Ein großer Vorteil meiner Arbeit ist es, dass ich mir Zeit für Gespräche nehmen und das Umfeld meiner Patienten mit einbeziehen kann“, sagt die 60-Jährige. Außerdem habe sie gelernt, mit wenigen Mitteln wirkungsvoll medizinisch tätig zu sein. „All das macht die Arbeit für mich sinnvoll und erfüllend, als Medizinerin und als Mensch.“
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Arztpraxis auf vier Rädern
Ärztin Barbara Kroll hilft ihren Patienten dort, wo sie leben – in Notunterkünften, auf der Straße. Vor 20 Jahren war Bielefeld eine der ersten Städte in NRW, die eine aufsuchende Gesundheitsfürsorge für Wohnungslose einrichteten

epd