Arzneimittelreste belasten das Trinkwasser und damit potenziell die Gesundheit der Bevölkerung. Eine vierte Reinigungsstufe in Kläranlagen soll es herausfiltern. Die Pharmaindustrie wehrt sich, weil sie zahlen soll.
Schmerzmittel und Antibiotika, aber auch Betablocker und Röntgenkontrastmittel: In Deutschlands Bächen, Flüssen und Seen haben Umweltwissenschaftler mehr als 400 verschiedene Arzneimittelwirkstoffe nachgewiesen. Die EU will das ändern. Zum 1. Januar trat eine neue europäische Kommunalabwasserrichtlinie in Kraft. Die EU-Mitgliedsstaaten haben 30 Monate Zeit, um sie in nationales Recht umzusetzen. Doch der Streit, wer das bezahlen soll, dauert an.
Der Jahresverbrauch an Human-Arzneimitteln in Deutschland wird auf 30.000 Tonnen geschätzt und umfasst rund 2.300 Wirkstoffe. 1.200 von ihnen gelten als umweltrelevant und potenziell gesundheitsschädlich. Reste, die ins Abwasser geraten, können mit konventioneller Klärwerkstechnik meist nur schwer entfernt werden.
Die Richtlinie hat es in sich: Große kommunale Kläranlagen müssen schrittweise bis 2045 mit einer zusätzlichen vierten Reinigungsstufe zur Entfernung von chemischen Spurenstoffen ausgestattet werden. Auch ausgewählte mittelgroße Kläranlagen müssen nachrüsten.
Das wird teuer. Besonders für die Pharma- und Kosmetikindustrie. Denn die EU hat vorgesehen, dass die vierte Reinigungsstufe nach dem Verursacherprinzip zu mindestens 80 Prozent von den Herstellern finanziert wird – Stichwort “erweiterte Herstellerverantwortung”. Damit soll ein Anreiz gesetzt werden, auf ökologische und nachhaltigere Produkte umzustellen.
Der Protest ist massiv: Die Pharmaindustrie befürchtet jährliche Kosten in Milliardenhöhe. Polen und auch der Branchenverband Pharma Deutschland sowie sechs Mitgliedsunternehmen haben Klage vor dem Europäischen Gerichtshof angekündigt.
Jetzt scheint die EU-Kommission zurückzurudern. Im Zusammenhang mit der am Mittwoch vorgestellten Wasserresilienzstrategie hat sie signalisiert, die Auswirkungen der Richtlinie auf den Pharma- und Kosmetikbereich zu überprüfen. Zuvor hatte auch das Europäische Parlament die Kommission aufgefordert, die Folgen für die Branche neu zu bewerten. Deutschland hatte bereits bei seiner Zustimmung zur neuen Abwasserrichtlinie in einer Protokollerklärung “Bedenken hinsichtlich der Versorgung mit generischen Arzneimitteln und möglicherweise entstehender Mehrbelastungen der Krankenkassen” angemeldet.
Die Pharma-Branche fordert eine faire Lastenverteilung. Die finanziellen Forderungen seien ungerecht, weil Verunreinigungen auch aus Quellen wie Pflanzenschutz und Reinigungsmitteln sowie dem Verkehr stammten. Die Unternehmen verweisen zudem darauf, dass die mit Medikamenten-Rückständen belasteten Abwässer zum größten Teil aus privaten Haushalten stammten, die bei jedem Toilettengang ins Abwasser gelangten.
Nach Schätzungen der Pharma-Industrie von 2018 sind die Hauptquellen für Humanarzneimittel im Oberflächenwasser Patientenausscheidungen (88 Prozent), unsachgemäße Entsorgung über Toilette und Spüle (10 Prozent) sowie Herstellungsprozesse (2 Prozent).
Viele der Stoffe seien zudem unerlässlich für die Wirkung der Arzneimittel, betonen die Hersteller. Druck macht die Pharma-Industrie auch mit der Ankündigung, dass bestimmte Medikamente durch die neue Verordnung sehr viel teurer würden. Das Geschäft mit patentfreien Medikamenten könnte sich vielfach nicht mehr rentieren. Lieferengpässe könnten auch dazu führen, dass die Abhängigkeit von ausländischen Herstellern wachse. Dabei wolle Europa doch die Produktion von wichtigen Arzneimitteln zurückholen, gibt der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese zu bedenken.
Anschaulich wurde das Problem zuletzt durch die Debatte über das Diabetes-Medikament Metformin. Der tschechische Anbieter Zentiva kündigte an, das Medikament bei unveränderter Umsetzung der Abwasserrichtlinie von Markt zu nehmen. Fast drei Millionen Patientinnen und Patienten müssten dann auf deutlich teurere Alternativen umsteigen – mit finanziellen Folgen für die Krankenkassen.
Europaabgeordneter Liese begrüßte im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), dass die EU-Komission die Kostenfrage noch einmal überprüfen wolle. Dabei sei er sich allerdings auch nicht sicher, ob die Zahlen, die die Industrie vorlege, korrekt seien. “Zudem wird in meiner Fraktion diskutiert, ob es sinnvoll ist, jetzt zusätzliche Maßnahmen vorzuschreiben, wenn die bestehenden Abwasservorgaben in der EU und in vielen Mitgliedstaaten noch nicht erfüllt werden.”