Millionen Menschen weltweit leiden an Multisystemerkrankungen wie ME/CFS, bekannt als “Chronisches Fatigue-Syndrom” – und fühlen sich vernachlässigt von Politik und Gesundheitssystem. Ein eindrücklicher Film klärt auf.
“Dass man eigentlich stirbt, und nicht stirbt. Und leben möchte.” Dass es so etwas gibt, hätte sich Rosas Vater zuvor niemals vorstellen können: Zuvor, das heißt, vor der Corona-Erkrankung seiner damals 15-jährigen Tochter. Seit Jahren liegt Rosa nun schon in einem abgedunkelten Zimmer, muss Augen und Ohren vor den Reizen der Außenwelt abschirmen, leidet unter Schmerzen und Übelkeit, kann sich nicht bewegen, wird von den Eltern gepflegt, kommuniziert mit diesen über Schnalzlaute.
Sie ist eine von 36 Millionen Long-Covid-Betroffenen, die es laut WHO allein in Europa gibt. Sie leiden an der Multisystemerkrankung ME/CFS, auch bekannt als “Chronisches Fatigue-Syndrom”, das seit Jahrzehnten als neurologische Erkrankung anerkannt und durch die Pandemie stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist. Doch trotz der vielen Kranken erhält das Thema noch immer zu wenig Aufmerksamkeit. ME/CFS, das bei Frauen häufiger auftritt als bei Männern, wird ebenso wie andere multisystemische Erkrankungen kaum erforscht und oft missverstanden. Der Dokumentarfilm “Chronisch krank, chronisch ignoriert”, den Arte am 25. Februar von 22.40 bis 0.15 Uhr ausstrahlt, möchte das ändern.
Eine der beiden Regisseurinnen, Sibylle Dahrendorf, ist selbst betroffen, leidet unter einer Verkettung multisystemischer Krankheiten. Während sie im Liegen von zuhause aus recherchiert und sich über die sozialen Medien mit anderen chronisch Kranken und Wissenschaftlern austauscht, führt Schmidt-Langels Interviews mit Experten auf der ganzen Welt, besucht Betroffene und versucht, Verantwortliche aus Politik und Gesundheitswesen mit den gesammelten Erkenntnissen zu konfrontieren.
Entstanden ist dabei ein so erhellender wie erschütternder, zugleich aber auch sehr atmosphärischer, auf Bild- und Ton-Ebene intensiver Dokumentarfilm. Informationen, Recherche-Ergebnisse, Interviews mit Wissenschaftlern und anschauliche Grafiken werden geschickt mit Einzelschicksalen, Audio-Tönen oder auch einfach nur schlichten, aber umso eindrücklicheren Aufnahmen zahlreicher Betroffener verknüpft: eine Collage des Leidens, die einen aufgewühlt zurücklässt.
Besonders herzergreifend sind die Schicksale der erkrankten Kinder, Rosa, Mila, Jakob, Maeve und wie sie alle heißen. Mila beschreibt die Krankheit einmal als “kalten, abweisenden, dunklen Tunnel”, durch den man “ganz alleine” gehe: “Und manchmal ist es so unendlich schwer, auch nur zwei Schritte weiter zu gehen.”
In einem historischen Exkurs zur Geschichte von ME/CFS erfährt man, dass unter der Bezeichnung verschiedene Krankheitsformen zusammengefasst wurden. Irgendwann hätte man dann “entschieden, dass dieses Label ein Rätsel ist”, fasst es Neurowissenschaftler Michael VanElzakker zusammen. Deshalb würden sich Ärzte oft damit abfinden, dass es weder Erklärung noch klare Therapie für die Erkrankung mit den vielfältigen Symptomen gebe.
Zahlreich sind auch die (möglichen) Ursachen: Medikamentenschäden, Covid-Erkrankung oder -Impfung, eine Reaktivierung des Epstein-Barr- oder Herpes-Virus. Es mangelt an Forschung und Wissen zum Thema, trotz einzelner Engagierter wie der Immunologin Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité oder dem österreichischen Neurologen Michael Stingl.
Völlig allein gelassen von Politik, Gesundheitssystem und Gesellschaft fühlen sich deshalb viele Betroffene und deren (pflegende) Angehörige, die häufig auch noch juristische Kämpfe um die Anerkennung von Pflegestufen, Impfschäden oder Ähnlichem ausfechten müssen. Oft erfolglos, da die Erkrankten und ihre Symptome nicht ernst genommen werden, ihre Krankheit psychologisiert und abgetan wird. “Den Leuten wird einfach nicht geglaubt”, so Neurologe Stingl.