Eine Arte-Dokumentation diskutiert neue Erkenntnisse über Papst Pius XII., der zwischen 1942 und 1945 Informationen über die Judenverfolgung zurückgehalten haben soll.
Pius XII. gehört sicher zu den Päpsten der Kirchengeschichte, die die kontroversesten politischen Diskussionen ausgelöst haben. Über sein Wissen rund um die Judenverfolgung und seine moralische Verantwortung angesichts des Holocausts wird seit Jahrzehnten debattiert.
Nachdem der Vatikan kürzlich geheime Dokumente freigab, wird deutlicher, welche Beweggründe ihn zu seinem Verhalten veranlasst haben könnten. Eine Arte-Dokumentation präzisiert das Bild eines Papstes, der in einer prekären Situation zwischen einer schlimmen und einer noch schlimmeren Katastrophe abzuwägen versuchte.
Am 2. März 1939 stieg weißer Rauch auf: Habemus Papam! Eugenio Pacelli, ein versierter Kirchendiplomat, wurde zum Papst gewählt in finsteren Zeiten. Schon in den 1920er Jahren verbrachte er als Botschafter des Vatikans einige Zeit in München. Er sprach fließend und akzentfrei deutsch. Den Aufstieg Hitlers hatte er aus nächster Nähe verfolgt, und er wusste, welche Gefahr von ihm und den Nationalsozialisten ausging. Doch welche Informationen er über die planmäßige Vernichtung der Juden hatte – darüber wird seit langer Zeit heftig gestritten.
Nachdem der Vatikan 2020 brisante Geheimdokumente freigab, wird nun deutlicher, welche Rolle Pius XII. tatsächlich spielte. In der einstündigen Dokumentation von Christel Fromm und Christian Feyerabend (Buch) kommt David Israel Kertzer zu Wort, der für sein Buch “Der Papst und Mussolini: Die geheime Geschichte von Pius XII. und der Aufstieg des Faschismus in Europa” den Pulitzer-Preis bekam. Als einer der ersten Historiker recherchierte er in den freigegebenen Archiven des Vatikans. Unter anderem seine Forschungsergebnisse brachten ans Licht, dass es ab 1939 insgesamt fünf Geheimtreffen zwischen dem Papst und Hitlers Gesandten gab, darunter der überzeugte Nazi Philipp von Hessen sowie Außenminister Joachim von Ribbentrop.
Die Nazis, so geht es aus den Gesprächsprotokollen hervor, boten dem Papst einen Deal an, der eigentlich ein Erpressungsversuch war: In Deutschland laufende Verfahren gegen Priester wegen Kindesmissbrauch würden eingestellt – wenn die katholische Kirche sich im Gegenzug aus der Politik heraushielte. Vor allem die “Rassenfrage” sollte ausklammert werden. Diplomatische Versuche, sich aus diesem Würgegriff zu befreien, so zeigt der Film, verfingen nicht. Und so signalisierte Pius XII. diplomatisch: “Wenn die Katholiken in Übereinstimmung mit ihrer Religion leben können, werden sie treu sein, mehr als alle anderen.”
Der fragile Burgfriede, den der Papst auf diese Weise auszuhandeln gehofft hatte, basierte auf der Mutmaßung, dass Hitler auch auf die nicht unerhebliche Anzahl der deutschen Katholiken angewiesen war. Und so drückte sich der Pakt des Schweigens, den er mit den Nazis schloss, unter anderem in der – häufig kommentierten – Weihnachtsansprache vom 24.12.1942 aus. Nur in einem Satz der 24-seitigen Rede erwähnte er die Ermordung Hunderttausender Menschen – aber ohne Täter und Opfer beim Namen zu nennen.
Anders als in bisherigen Darstellungen hebt die Dokumentation hervor, dem Papst hätten bereits zu dieser Zeit konkrete Schilderungen über die massenhafte Ermordung von Juden in Osteuropa vorgelegen. Hätte er größeres Unheil abwenden können, wenn er diese Informationen mit der Weltöffentlichkeit geteilt hätte? Auf diese alte Frage gibt der Film keine völlig neue, aber eine doch in vielen Details differenziertere Antwort.
Fromm und Feyerabend diskutieren die gesamte Problematik unter anderem vor dem Hintergrund eines strukturellen Antisemitismus innerhalb der katholischen Kirche, für den Belege angeführt werden. Das Schweigen des Papstes wird allerdings nicht auf dieses Motiv zurückgeführt. Die Dokumentation erinnert daran, dass Pius XII. sich daran beteiligte, zahlreiche römische Juden zu verstecken, die im Oktober 1943 von der SS ermordet werden sollten.
Die veränderte Perspektive, die durch die Öffnung der Geheimakten entstand, wird in diesem Film zum Glück nicht, wie der Arte-Pressetext marktschreierisch ankündigt, als “Weltsensation” aufbereitet. Gezeichnete Illustrationen von Treffen des Papstes mit Nazis bewahren eine Distanz zum Geschehen. Nicht angemessen ist lediglich die störende Untermalung mit einem atemlosen Musikstakkato, das man aus konventionellen History-Dokumentationen zur Genüge kennt. #
Verwunderlich ist es allerdings, dass die Dokumentation das Bühnenstück “Der Stellvertreter” nicht erwähnt, in dem Rolf Hochhuth die Rolle von Papst Pius XII. schon 1963 mit den Mitteln des Dramas zuspitzte. Ohne die Erwähnung des damaligen “Theaterskandals” und der folgenden internationalen Kontroverse wird nicht recht deutlich, wie intensiv die Thematik schon seit über 60 Jahren diskutiert wird.
Gewiss, das Schlussplädoyer der Experten ist eindeutig: Das Schweigen des Papstes sei “nicht alternativlos” gewesen. Sein Einsatz für verfolgte und ermordete Juden wäre “moraltheologisch gedeckt gewesen”. Der zurückbleibende Gesamteindruck ist jedoch der, dass die Fragestellung immer noch komplexer ist als bislang angenommen.