Die Hauptfigur im “Krimi aus Brandenburg” hat wie unter Fernsehermittlern üblich eine besondere Begabung. Diese hier unterscheidet sich aber von anderen – und das ist nicht das einzige Plus der neuen ARD-Reihe.
Ob man körperliche oder geistige Fehlfunktionen als Leid, gar Krankheit bezeichnet, ist eine Frage der Perspektive. Wer vom Phänomen der Synästhesie betroffen ist, kann ursprünglich getrennte Sinneswahrnehmungen miteinander kombinieren. Er sieht also Töne, hört Farben, fühlt Gerüche, schmeckt Gedanken. Ein wenig seltsam, aber nicht schädlich – und in Tonja Raabes Fall überaus hilfreich.
Die junge Streifenpolizistin soll nämlich dabei helfen, ein Baby zu finden, das zu Beginn einer neuen ARD-Reihe nahe der brandenburgischen Kleinstadt Senftenberg entführt wurde, derweil ihr Bruder als ortsansässiger Kommissar parallel im Fall des Au-Pair-Mädchens ermittelt, das beim Kidnapping ums Leben kam. Ein doppelt schwieriges Unterfangen – saugt die Lausitz, wie uns der “Spreewaldkrimi” seit beinahe 20 Jahren lehrt, doch Urteilsvermögen und Scharfsinn auf wie Moore einst die Leichen.
Wie gut also, dass Tonja Synästhetin ist. Wo tradierte Falllösungsmittel versagen, wird sie von leuchtenden Düften, Tönen, Farben durchs Unterholz eines vertrackten Falls geleitet und findet dort Beweise, die Normalsterbliche nun mal übersehen/-hören/-riechen. Während sich die Wut der Menschen vor Ort im Gleichschritt mit dem Ermittlungseifer der Polizei zügig aufs nahegelegene Geflüchtetenheim richtet, führt Tonjas Spürsinn auf Spuren abseits rassistischer Vorurteile. Den Vater (Franz Drinda) des verschleppten Kindes zum Beispiel oder die Pflegekraft Franzi (Katrin Wichmann) und ihren Mann Olaf (Johannes Allmeyer).
Entführung, Mord und Tätersuche spielen im neunzigminütigen Auftaktfall des “Krimis in Brandenburg” allerdings eher tragende Nebenrollen. Weiter vorn auf der Besetzungsliste steht das, was die Drehorte öffentlich-rechtlicher Landkommissariate von Usedom, Leer, Aurich und Husum über Harz, Vulkaneifel, Schwarzwald bis Lindau, Rosenheim, Passau, Garmisch, Bad Tölz gemeinhin kennzeichnet: Eine Art Heimatliebe-Grundversorgung mit Krimi-Elementen vor Panoramatapetenkulisse, welche die menschliche Abgründe darin nur mühsam verschleiert.
Auch im Reihendebüt “Die Raaben und das tote Mädchen” kreisen deshalb andauernd Drohnen hoch überm Senftenberger Braunkohlerevier, wo moderne Ost-Cops wie ihre DDR-Vorgänger Lada Niva fahren, bodenständig bleiben, Sorbisch sprechen – oder zumindest so sind wie Landbulle Renz, den Andreas Anke mit glaubhafter Lausitz-Schnauze verkörpert. Wenn er da “wo soll ick denn die Leute hernehmen?” fragt und energisch hinzufügt, “jetzt soll’n wa auch noch ‘n jeflüchteten Flüchtling fangen”, wähnt man sich tatsächlich am Ostrand der Republik und ihrer Probleme. Vor allem jedoch in ihrer Atmosphäre.
Nach Büchern des erfahrenen “Tatort”-Autors Alexander Buresch taucht Regisseurin Nina Vokovic (“Kleo”) bis zum Hals ein in die sagenumwobene Feuchtlandschaft entlang der polnischen Grenze und lässt ihre Figuren dort auf-, und nicht untergehen. Besonders Hauptdarstellerin Alina Stiegler, gebürtige Bayerin, scheint die Region in jeder einzelnen Pore zu spüren. Selbst ihr Sorbisch, das sie manchmal mit Bruder Anton (Anton Rubtsov) spricht, wirkt daher authentisch. Kein Wunder, durfte Stiegler die Uniform-Rolle an gleicher Stelle doch schon in mehreren Spreewaldkrimi-Krimis als Luise Bohn üben.
Nicht alle Figuren sind so plausibel. Dass Anton und Tonja Geschwister sind, ist zumindest optisch pure Behauptung. Auch die Ermittlung wirkt mitunter leicht hölzern. Und der forensische Trick Synästhesie ist – wie Amnesie, Zeitreisen oder Drillinge an Bord – ein ziemlich billiger Spannungsbogen. Seine Visualisierung hebt das Energielevel der Umgebung jedoch ein kleines Stück höher und verstärkt die mystische Dringlichkeit einer magischen Landschaft. Dass Tonja – wie so viele Figuren dieser Art – ein dunkles Geheimnis inklusive Suspendierung und Psychotherapie hat, was sich im Laufe der Reihe noch aufklären dürfte, ist dabei aber womöglich auch nur der schieren Masse fiktionaler Kollegen geschuldet.
Bei Hunderttausend Krimis, die Jahr für Jahr unsere Flatscreens fluten, bedarf das Personal halt dringend individueller Distinktionsfaktoren, um irgendwie aufzufallen. Und dieser hier fällt auf. Zwar nicht so brillant wie “Die Toten von Marnow”, mit denen Andreas Herzog (Buch: Holger Karsten Schmidt) unlängst in zweiter ARD-Staffel bewiesen hat, wie Charaktere und Kulissen zur dramaturgischen Einheit verschmelzen, wenn man sie ernst nimmt. Für einen Donnerstagskrimi jedoch ist der neue aus Brandenburg schon deshalb bemerkenswert, weil er konsequent auf Eindrücke statt Effekte setzt und den Mordfall als Vehikel einer Geschichte über die Menschen darin benutzt. Der zweite Teil darf also gerne folgen.