Besonders seit dem 7. Oktober ist die Zahl gemeldeter antisemitisch motivierter Vorfälle in die Höhe geschnellt. Der Antisemitismus-Beauftragte fordert Anpassungen im Strafrecht.
Die Zahl der gemeldeten gegen Juden gerichteten Vorfälle in Deutschland hat im vergangenen Jahr einem Bericht zufolge einen neuen Höchststand erreicht. 4.782 erfasste Fälle seien 80 Prozent mehr als im Vorjahr, wie der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) am Dienstag in Berlin mitteilte. Der Verband erfasst auch Vorkommnisse, die unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit liegen. Allein nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober dokumentierte Rias bis Ende 2023 mehr Vorfälle als im gesamten Jahr 2022, nämlich 2.787.
In dem Zeitraum passierten laut Bericht auch rund zwei Drittel aller Fälle von extremer Gewalt, Angriffen und Bedrohungen. Seit dem 7. Oktober habe es ebenfalls mehr “Vernichtungsdrohungen gegen jüdische Institutionen und Personen” gegeben. 2023 entfielen erstmals seit Beginn der Erhebung die meisten Vorfälle, die zugeordnet werden konnten, auf “antiisraelischen Aktivismus”, wie es weiter hieß. Dieser habe vor allem bei Versammlungen eine zentrale Rolle gespielt.
Im vergangenen Jahr meldeten Betroffene beziehungsweise Zeuginnen und Zeugen 121 Angriffe. Dazu kamen laut Bericht 7 Fälle extremer Gewalt und 183 Fälle antisemitischer Bedrohungen. Häufiger als 2022 gab es laut Bericht Vorkommnisse in der Öffentlichkeit: So sei fast die Hälfte aller dokumentierten Vorfälle auf der Straße, in öffentlichen Gebäuden, Verkehrsmitteln und Grünanlagen passiert. Zum Vergleich: 2022 habe dieser Anteil bei 39 Prozent gelegen. 21 Prozent aller antisemitischen Vorfälle im vergangenen Jahr ereigneten sich online.
Auffällig hoch sei die Zahl an Schulen, Hochschulen, in Museen und Theatern gewesen, hieß es. Während es laut Bericht 2022 noch 184 Fälle waren, waren es im vergangenen Jahr 471. Aus dem Wohnumfeld von Betroffenen wurden 221 Fälle gemeldet (2022: 118). Die dokumentierten Fälle erfassen laut Rias nur einen Ausschnitt. Es sei von einer großen Dunkelziffer auszugehen.
Der Geschäftsführer des Rias-Bundesverbandes, Benjamin Steinitz, resümierte: Ein “offenes und selbstverständliches, aber vor allem unbeschwertes jüdisches Leben” sei seit dem 7. Oktober auch in Deutschland noch weniger möglich als zuvor. “Der Staat trägt die Verantwortung, für Jüdinnen und Juden eine sichere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten.”
Der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, erklärte: “Sorge bereitet vielen auch die Frage, ob in Zukunft ein freies und sicheres Leben als Juden in Deutschland möglich sein wird.” Die Ereignisse vom 7. Oktober markierten “eine tiefe Zäsur für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland”, so Botmann. “Jüdinnen und Juden erleben den öffentlichen Raum als zunehmend unsicher und haben vielfach Angst, sich als jüdisch zu erkennen zu geben.” Dies habe eine aktuelle Umfrage im Auftrag des Zentralrats ergeben.
Der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, sagte, jüdisches Leben sei in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Er forderte Ergänzungen im Strafrecht, damit dieses nicht hinter der neuen Realität zurückbleibe. Der Aufruf zur Vernichtung anderer Staaten müsse strafbar sein, so Klein. Auch sollten künftig die Hetze gegen Personen und Gruppen aus dem Ausland sowie antisemitische Chiffren unter den Straftatbestand der Volksverhetzung fallen.