Die Geschichte der Anonymen Alkoholiker (AA) in Deutschland beginnt am 31. Oktober 1953 mit einer kleinen Anzeige, die leicht zu übersehen ist. Unter der Rubrik „Was Sie heute wissen müssen“ auf Seite 10 der „Süddeutschen Zeitung“ steht die dürre Nachricht: „Die Vereinigung Alcoholics Anonymous hält morgen, 14 Uhr, im Hotel Leopold ihre erste Versammlung ab.“ Heute gibt es mehr als 2.000 AA-Gruppen, in denen Menschen gemeinsam Wege aus der Sucht suchen. Längst ist das Prinzip der Selbsthilfe auch aus anderen sozialen Feldern nicht mehr wegzudenken.
In den USA waren die christlich-evangelikalen Treffen der Anonymen Alkoholiker bereits seit den 1930er-Jahren erfolgreich gewesen. Mit den US-Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Idee auch nach Deutschland, um, wie es auf der Homepage der AA heißt, „die Genesungsbotschaft an deutsche Alkoholiker weitergeben zu können“.
„Es war kurz nach 14 Uhr, als eine Gruppe amerikanischer Soldaten ihr erstes Meeting begann. Etwa 25 Menschen waren gekommen, darunter vielleicht zehn Deutsche“, ist auf der österreichischen Homepage „alk-info.com“ über das erste deutsche Treffen im Hotel Leopold nachzulesen.
Auf Selbsthilfe für Alkoholkranke setzen heute auch der Kreuzbund, das Blaue Kreuz und der Verein der Guttempler, um nur die großen Träger zu nennen. Und deren Hilfen werden gebraucht: Laut Bundesgesundheitsministerium liegt bei rund neun Millionen Deutschen zwischen 18 und 64 Jahren ein problematischer Alkoholkonsum vor. Im Jahr 2020 starben nach Angaben des Bundesdrogenbeauftragten in Deutschland rund 14.200 Menschen an einer ausschließlich durch Alkoholkonsum bedingten Krankheit, die meisten davon Männer.
Die Gründer der Bewegung der Anonymen Alkoholiker waren selbst alkoholkrank: der Börsenmakler William Wilson (1895-1971), der schon mit 20 Jahren Trinker war und mehrere Entzüge abgebrochen hatte, und der Chirurg Robert Smith (1879-1950). Sie hatten erkannt, dass der Zwang zum Alkoholkonsum nachlässt, wenn man sich offen in einem geschützten Raum über seine Krankheit unterhält.
In der Kleinstadt Akron im US-Bundesstaat Ohio gründeten sie 1935 die erste Gruppe der Anonymen Alkoholiker. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist bis heute der persönliche Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Die Gemeinschaft nimmt keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren, sie finanziert sich allein durch Spenden.
Aus dem in vielen Gesprächen Gehörten entwickelten Wilson und Smith das Programm der „Zwölf Schritte“ als Glaubenssätze – eine Art Lebens- und Genesungsgrundlage, die als Buch mit den Erlebnisberichten nun trockener Alkoholiker ein Bestseller wurde. Nach Schätzungen zählen die AA heute zwei Millionen Teilnehmer in 150 Ländern.
Die AA standen immer wieder im Ruf, eine religiöse Sekte zu sein. Die Organisation weist das zurück, betont ihre konsequente Unabhängigkeit, auch in Sachen finanzieller Unterstützung. Deshalb verbinde man sich auch nicht mit Institutionen und Personen oder äußere sich zu den Streitfragen der Zeit.
„Es gibt Belege dafür, dass die Effekte von Gesprächs-Selbsthilfegruppen mit denen der Gruppenpsychotherapie vergleichbar sind. Sie verringern psychische Störungen und erhöhen subjektive Gesundheit und Lebensqualität“, schreibt Bernhard Borgetto, Medizin- und Gesundheitssoziologe, in einem Beitrag für das „Suchtmagazin“.
Eine Analyse des internationalen Forschungsnetzwerkes Cochrane aus dem Jahr 2020 bestätigt die Wirkung der AA-Hilfen. Dabei wurden 27 Studien mit mehr als 10.000 Teilnehmenden miteinander verglichen. Das Ergebnis: Die regelmäßige Teilnahme an AA-Treffen half den meisten Alkoholkranken wirksamer, dauerhaft abstinent zu bleiben als vergleichbare Behandlungen wie die der kognitiven Verhaltenstherapie. Der Analyse zufolge hängt der Erfolg im Wesentlichen von den gut geplanten Förderprogrammen ab, die die dauerhafte Teilnahme an AA-Treffen unterstützen.
„Selbsthilfegruppen setzen da an, wo das professionelle Hilfesystem letztendlich nicht mehr weiterkommt, also etwa bei chronischen Erkrankungen oder Behinderungen“, sagte der Hamburger Psychologe Christopher Kofahl dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie gäben Erfahrungswissen weiter, das Ärzte, Pflegekräfte, Therapeuten und Sozialarbeiter nicht haben könnten, weil sie die entsprechenden Erfahrungen nicht gemacht hätten. „Da geht es um Geborgenheit, um das Gefühl, nicht allein zu sein, um gegenseitige psychosoziale Entlastung. Das ist das zentrale Motiv der Selbsthilfe“, sagte der Vize-Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Die AA seien herausragend für alle Patientinnen und Patienten, die sich darauf einlassen könnten, erklärte der Selbsthilfe-Experte. „Es gibt zwar eine christliche Grundierung, aber man muss nicht unbedingt gläubig sein, um die Sucht zu überwinden. Das Zwölf-Schritte-Programm ist ein Ritual, und die Spiritualität, die da drin liegt, fordert Demut vor der Macht der Sucht, um dann Schritt für Schritt die Sucht in den Griff zu bekommen.“ Die AA-Gruppen seien „Inseln, die helfen, den Alltag zu strukturieren.“ Alkoholsucht sei unglaublich stark und die therapeutischen Erfolge seien ja relativ bescheiden: „Und deshalb können ehrenamtliche Angebote wie die der AA es tatsächlich mit den professionellen Hilfen aufnehmen.“