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Angehörige erinnern am Ort des Hamas-Massakers in Südisrael an Opfer

Ein Jahr ist seit dem Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel vergangen. Am Jahrestag zeigen die Familien der Opfer öffentlich ihre Trauer – auch in Re’im, wo Hunderte Besucher eines Musikfestivals getötet wurden.

Ein Meer aus roten Keramikblumen bedeckt den Sand. Rote Blumen auch unter jedem Foto, an jeder Stele. “Sieben Blumen für jeden Ermordeten des 7. Oktober”, sagt Jaffa Salomon, Koordinatorin der Gedenkaktion, und verteilt rote Filzblumen an Besucher. Auf dem sandigen Gelände am südisraelischen Kibbuz Re’im nahe des Gazastreifens wurden vor einem Jahr mindestens 364 Besucher des Nova-Musikfestivals von Hamas-Terroristen ermordet. Am ersten Jahrestag haben sich hier Familien, Freunde und Überlebende versammelt. Noch immer herrscht Fassungslosigkeit.

“Die Region ist bekannt für das Meer von roten Anemonen, die im Frühjahr blühen. Aber am 7. Oktober war die Erde getränkt von Blut, überall war Tod”, erinnert sich Salomon. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn beschloss sie, Blumen zur Erinnerung zu bringen – an jeden israelischen Ort, wo am 7. Oktober Menschen getötet wurden.

Das Festivalgelände ist zu einem besonderen Ort des Gedenkens und der Trauer geworden. Aus den anfänglichen Eisenstäben mit eingeschweißten Fotos der Opfer entstanden individuelle Gedenkstelen. Sie erzählen von der Vielfalt und Schönheit all jener, die nicht mehr sind. Fotos und Zeichnungen, Stofftiere und andere Andenken sind zu sehen. Digitale QR-Codes verweisen auf die Lebensgeschichte der Toten.

Ringsum versammeln sich seit dem Morgengrauen Menschen in kleinen Gruppen. Kerzen verwandeln die Nacht in ein Lichtermeer. Es wird geweint, gelacht, Erinnerungen werden geteilt. Eine junge Frau streichelt liebevoll das Foto eines der ermordeten Partygänger. Ihre Hände verharren auf der Hand auf dem Foto, als wollte sie sie festhalten. Ein älteres Paar ein paar Stelen weiter klammert sich abwechselnd an das gerahmte Porträt ihres Sohnes.

Bei der zentralen Gedenkfeier erklingt Musik. Nicht die elektronischen Klänge der Rave-Party, die am 7. Oktober um 6.29 Uhr abrupt verstummte. Es sind Lieder für die Opfer, die in den vergangenen Monaten entstanden sind – die Texte voller Schmerz, Erinnerung und Sehnsucht.

“Unser Leben wurde auf den Kopf gestellt”, sagt Artur Kasavchok. Der 22-Jährige aus Sderot hat an jenem Tag seinen Zwillingsbruder Daniel verloren – und 18 Freunde. Er wollte eigentlich mit ihnen zusammen zum Festival anreisen, entschied aber am Abend zuvor, erst morgens hinzuzukommen. Für das, was passierte, habe er “keine Worte”. Er komme nicht oft auf das Gelände, sagt Artur, und auch jetzt steht er mit ein paar Freunden abseits des Gedränges.

Ein älterer Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte, hat sich aus dem Ort Tkuma an der nördlichen Gazagrenze auf den Weg gemacht, “aus Solidarität mit den Familien”. Zusammen mit knapp 1.000 Mitstreitern hat er die Strecke mit dem Rad zurückgelegt. Vor dem Krieg galt das Gebiet als Paradies für Radfahrer. Der 71-Jährige aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden trägt das olivgrüne T-Shirt des politisch rechtsgerichteten Tikva-Forums. Die Geiseln, die noch in Gaza sind, seien ein riesiges moralisches Problem, sagt er. Und dass er sich einen Deal zur Freilassung gewünscht hätte – aber nicht um jeden Preis. “Nach allem, was passiert ist, können wir nicht einfach eine weiße Fahne hissen. Wir haben kein anderes Land als dieses hier.”

“Wir haben keinen anderen Ort, an den wir gehen können”, sagt Joram Jehudai. Er hat seinen 24-jährigen Sohn Ron auf dem Nova-Festival verloren und kämpft nun darum, dass das Geschehene nicht vergessen wird. In einem großen gelben Müllcontainer hatten sich Ron und 15 weitere Partygänger über Stunden versteckt, in der Hoffnung, von den Terroristen übersehen zu werden. Die Hoffnung wurde enttäuscht. “Um 11.47 Uhr kam ein Terrorist in den Container und schoss auf unsere Kinder”, erzählt Jehudai. Neun Personen starben, vier weitere wurden verletzt.

“Als ich einen Monat später an den Ort kam, war der Container verschwunden. Der Besitzer hat ihn weiterhin für Müll benutzt”, sagt Jehudai und kann seine Gefühle schwer verbergen. Auf eigene Faust zog er los, suchte, fand und kaufte ihn. Heute steht der Container genau dort, wo er am 7. Oktober zur Falle wurde. An den Wänden sind Fotos der Toten und Plakate mit den letzten Nachrichten angebracht, die sie mit ihren Familien austauschten. “Dieses Museum ist sehr wichtig, für uns in Israel, aber auch für die Welt: Die Geschichte des 7. Oktober und die Geschichte unserer Kinder darf niemals vergessen werden”, betont der Vater des getöteten Ron.

Das zentrale Gedenken auf dem Festivalgelände endet nach Sonnenaufgang mit der haTikwa, der israelischen Nationalhymne, die von Hoffnung handelt. Viele Familien ziehen weiter, um an den Dutzenden Orten rund um Re’im noch einmal an- und innezuhalten: an den vielen Betonschutzräumen entlang der Straße zum Festival, auf freiem Feld – dort, wo ihre Liebsten vor einem Jahr umgebracht wurden.