Scheinbar ungeordnet hallen die Orgeltöne durch das Schiff der St.-Severi-Kirche im Nordseebad Otterndorf bei Cuxhaven: Mal laut und dunkel, dann wieder leise, im nächsten Moment kantig und gleich darauf hell. Orgelbaumeister Hendrik Ahrend und sein Geselle Michael Kammleiter testen mit feinem Gehör die Pfeifen des Instrumentes, an dem sie nun zusammen mit einem großen Team mehr als zwei Jahre gearbeitet haben. Es ist der Endspurt für ein Projekt, das es bundesweit nur noch selten gibt, Schlusspunkt einer spektakulären Rettungsaktion, die 1,8 Millionen Euro gekostet hat.
Es geht um eine historische Orgel, ein barockes Schmuckstück, das 1742 von Dietrich Christoph Gloger (1705-1773) errichtet wurde. Der Baumeister hatte damals auch gut erhaltenes Pfeifenmaterial aus der Renaissance verwendet – ein seltener Schatz von hohem Wert, der dem Instrument 2020 auch den Titel von Deutschlands „Orgel des Jahres“ der Stiftung Orgelklang einbrachte.
Es ist die größte Barockorgel zwischen Elbe und Weser. „Ein Klangdenkmal“, schwärmt Ahrend, der von der Kirchengemeinde 2018 mit der Restaurierung beauftragt wurde. Das war dringend nötig. Denn zu diesem Zeitpunkt war das Instrument, das mit ähnlich bedeutenden Orgeln in Stralsund, Hamburg, Stade und Norden in einem Atemzug genannt wird, in einem bedenklichen Zustand: Unsachgemäße Umbauten, Schimmel und Rost hatten dem Gloger-Meisterwerk zugesetzt. „Mal blieben Töne hängen oder ließen sich überhaupt nicht spielen, viele waren dauerhaft und hörbar verstimmt“, erinnert sich Organist Kai Rudl.
Vor gut zwei Jahren wurde die Orgel dann komplett abgebaut und in die Werkstatt von Hendrik Ahrend ins ostfriesische Leer geschafft – eine Mammutaufgabe, ein Riesenpuzzle mit Tausenden Teilen. Nun thront sie wieder in St. Severi, oben auf der Empore. Und es sieht so aus, als wäre sie dem Himmel nahe: Über den Kirchenbänken glänzen die meterhohen Prospektpfeifen aus reinem Zinn. Sie stehen vor einem satt-blauen Dachgewölbe, eingefasst von vergoldeten Gehäusepartien und Schmuckelementen wie einem musizierenden Engel. Passend dazu die Adresse der Kirche – Himmelreich.
Aber noch ist nicht alles geschafft. Hendrik Ahrend und Michael Kammleiter intonieren, und das schon seit Wochen. Auch diese Aufgabe ist gewaltig, insgesamt müssen 46 Register und 2.676 Pfeifen aufeinander und mit dem Kirchenraum abgestimmt werden, um der barocken Klangvielfalt im Sinne Glogers wieder Leben einzuhauchen.
„Intonation ist Klanggestaltung“, betont Ahrend. Und Chefsache. Denn hier geht es um die Seele der Orgel, die mit einer ganzen Reihe von Werkzeugen bearbeitet wird. Stimmhorn, Dorn und Intonier-Hämmerchen, Feile, Blechschere und Stecheisen, Ledermesser und Lanzette – das und noch viel mehr liegt parat, um den Pfeifen einen klaren und vollen Ton abzugewinnen.
Unterstützt wird Ahrend dabei von einem elektronischen Stimmgerät. Doch ohne seine Erfahrung, die er über Jahrzehnte gesammelt hat, würde das hier nicht funktionieren. Schließlich saß der heute 61-Jährige schon mit fünf Jahren am Spieltisch einer Orgel. Routiniert greift er jetzt zu seinen Werkzeugen, klettert in den Bauch der Orgel, um Pfeifen zu kürzen, Luftspalten zu weiten und Kernstiche zu setzen – Handgriffe, bei denen manchem Laien beim Zuschauen die Luft wegbleibt: Vorsicht, das lässt sich doch nicht mehr rückgängig machen.
So arbeitet Ahrend an einem „herrschaftlichen Glanz, den man auch hören soll“. Eine Kunst. Und „echte Detektivarbeit“, wie er selbst betont. Das Ziel hat der Meister klar vor Augen, oder besser: im Ohr. „Die Orgel soll am Ende hell klingen, prächtig, freundlich.“ Noch bis zum 20. Oktober ist Zeit, dem Klangdenkmal den letzten Schliff zu geben. Dann soll die barocke Preziose mit einem Festgottesdienst neu eingeweiht werden.
Damit das überhaupt möglich wurde, hat sich die Gemeinde in den zurückliegenden Jahren mächtig ins Zeug gelegt, hat einen Förderverein gegründet, Benefizkonzerte organisiert, Fördergelder eingeworben und Fundraising-Projekte gestartet. Gemeindepastor Thorsten Niehus blickt mit Dankbarkeit zurück. Dass es tatsächlich gelungen sei, das Instrument zu retten, meint der Theologe, „das ist für mich ein Wunder“.