„Pursuing peace“ – „nach Frieden streben“ – war der offizielle Claim, unter dem das Treffen der mächtigen Staatschefs der USA und Russlands am 15. August in Alaska stattgefunden hat. Während der Gespräche, in denen offiziell um Frieden „gerungen“ wurde, ging das Töten auf ukrainischem Gebiet unvermindert weiter. Welche Signalwirkung kann von diesem Treffen ausgehen? Wenigstens einen Waffenstilltand in der Ukraine hatte der US-Präsident als Zielvorgabe für die Verhandlung mit dem russischen Präsidenten gesetzt. Jetzt stellt sich die Frage: War ein Ende der verbrecherischen Gewalt, mit der Russland die Ukraine seit mehr als drei Jahren überzieht, überhaupt ein Thema? Welche Vorstellungen von einem Frieden sind in Alaska zur Verhandlung gekommen, wenn ein sofortiges Schweigen der Waffen als Etappenziel nicht mehr als erstrebenswert erachtet wurde?
Ohne Gewaltverzicht keinen Frieden
Schwer erträglich ist der Zynismus, der Menschenleben und menschliche Schicksale ausblendet, während nationale, wirtschaftliche oder auch imperiale Interessen zwischen den Mächtigen verhandelt werden. „Pursuing peace“- ein Streben nach Frieden braucht als ersten Schritt die Bereitschaft zu einem Gewaltverzicht. Andernfalls bleiben mögliche Verhandlungen unter dem belastenden Druck einer fortgesetzten Gewalt. Die damit deutlich signalisierte Gewaltbereitschaft bleibt als erpresserische Drohung bestehen für den Fall, dass im Zuge der Verhandlungen bestimmten Interessen nicht entsprochen wird.
In mehrfacher Hinsicht war Alaska für derlei Gespräche der angemessene Ort. Der Westen von Alaska hat nicht nur eine geografische Verbindungslinie zwischen Russland und den USA. Es gibt auch eine historische Verbindungslinie. Alaska wurde 1867 von Russland unter Zar Alexander II. an die USA verkauft. Dort also, in berührungsfreier Distanz zu den Schauplätzen der kriegerischen Gewalt in der Ukraine haben die zwei Machthaber hinter verschlossenen Türen ihre Gespräche geführt.
Russlands Angriffskrieg legitim?
Die im Bereich der Andeutungen verbliebenen Ergebnisse dieser Gesprächsrunde legen den Schluss nahe, dass die Entfernung des Verhandlungsortes zum Kriegsgeschehen in der Ukraine nicht nur geografisch bestimmt gewesen ist. Auch inhaltlich dürfte das unsägliche Leid der Menschen, das dieser Krieg produziert, bestenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Scheinbar gänzlich unberührt von unfassbar leidvollen Menschenschicksalen wurden am Rande der Zivilisation, im Polarklima, Hände geschüttelt und die machtpolitischen Interessen zweier Weltmächte ausgelotet. Es steht zu befürchten, dass der Angriffskrieg Russlands mit all seinen Folgen durch einen wie auch immer gearteten Deal nunmehr den Schein einer Legitimität erhält. Die seit dem Ende des 2. Weltkriegs realisierten Errungenschaften in Sachen Völkerrecht und Menschenrechte werden in dem Fall ausgehöhlt und relativiert. Das Recht der Gewalt des Stärkeren wird auf höchster politischer Ebene erneut salonfähig gemacht.
In dem Zusammenhang muss in der Erinnerung bleiben, dass „Pursuing peace“ inhaltlich das ernsthafte Anliegen der Völkergemeinschaft nach dem Ende des 2. Weltkrieges gewesen ist. Wie selten zuvor waren die Staaten der Erde zur Entwicklung neuer internationaler Organisationsstrukturen angespornt. Mit der Gründung der Vereinten Nationen im Oktober 1945 wurde der Völkerbundgedanke aufgenommen und umfassend ausgeweitet. Als Modell einer Weltgemeinschaft sollte in der Folge eine nachhaltige Friedenssehnsucht sich mit einer entsprechenden Organisationsstruktur verbinden.
Kriegstreiben Legitimation entzogen
„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ stellte auch die Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam fest. Drei Jahre nach dem Ende des unter anderem mit der „Vorsehung“ legitimierten 2. Weltkrieges und 30 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (der „für Gott, Kaiser und Vaterland“ geführt worden war) wurde durch die ökumenische Kirchengemeinschaft jeglichem Kriegstreiben die metaphysisch überhöhte Legitimation nicht nur entzogen! Der Wille zum Krieg stand für die Weltgemeinschaft der Christen in Folge der Schrecken des 2. Weltkrieges in einem deutlich erklärten Widerspruch zu einem göttlichen Friedenswillen. “Der Kaiser ist keineswegs göttlich, das japanische Volk ist über die anderen Völker nicht erhaben”, hatte zuvor auch der japanische Kaiser Hirohito am 1. Januar 1946 erklärt. Vier Monate lagen zu diesem Zeitpunkt die Abwürfe der zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zurück. Am 2. September 1945 hatte Japan als letzter „Achsenstaat“ bedingungslos kapituliert. Der 2. Weltkrieg war mit diesem Datum auch im asiatischen Raum beendet.
Als weitere Konsequenz dieser Entwicklungen hat schließlich die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Resolution verabschiedet. Unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, sexueller Orientierung, Identität oder Vermögen rückt nunmehr der einzelne Mensch als mit Würde und Rechten geboren in den Mittelpunkt der politischen Verantwortung.
Politische Verantwortung für Menschenrechte
Jegliches Unterfangen eines „Pursuing peace“ ist unter Beachtung dieser Entwicklungen gehalten, die politische Verantwortung auf die Würde und das Wohlergehen jedes einzelnen Menschen zu fokussieren. Die Geschichte eröffnet hier keinen Spielraum für „Deals“ zwischen Staaten. Die Geschichte ist eindeutig: Krieg ist kein legitimes Mittel der Politik. Kriegerische Gewalt öffnet der Menschenverachtung und der Verletzung der Menschenwürde Tür und Tor.
Ansporn für Friedensordnung
Immer wieder waren und sind seither Schreckensbilder der Gewalt Impulsgeber für Friedensbestrebungen geworden. Das Bild der Leichenberge, die in Dresden im Februar 1945 aufgeschichtet wurden, das Bild des völlig zerstörten Hiroshima vom September 1945, das Bild von Kim Phuc aus dem Vietnamkrieg, Anfang der 1970er Jahre und die Bilder von Srebrenica (1995) sind nur eine minimale Auswahl. Diese Bilder stehen in einer Reihe mit den Bildern aus Butscha und weiteren Orten in der Ukraine, von denen ganz unmissverständlich die Botschaft ausgeht: „Hier werden Humanität und Würde in den Dreck getreten. Die Gewalt muss aufhören, sofort, jetzt!“ Wer Frieden anstrebt, darf sich zu diesen Bildern, auch den Bildern aus Gaza, und ihren Kontexten nicht auf Distanz halten. Er und sie muss sie an sich heranlassen und zum Ansporn und Ausgangspunkt aller weiteren Handlungen und Überlegungen zu einer Friedensordnung machen.
Die unverlierbare Würde eines jeden einzelnen Menschen ist anschlussfähig für den Auftrag der Kirche. Angesichts sämtlicher Entwicklungen hin zu Krieg und Gewalt zählt es zu den wesentlichen Aufgaben der Kirche die unbedingte Menschenliebe Gottes zu verkündigen. Sie gilt allen Menschen, jedem und jeder einzelnen und wird allen Menschen durch das Evangelium zugesprochen. Dazu gehört, immerzu daran zu erinnern, was 1948 die Vollversammlung des ÖRK festgestellt hat. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“
Beten für Frieden und Versöhnung
Im Vaterunser beten wir „…dein Wille geschehe…“ Gottes Wille zu Frieden und Versöhnung werden hier erbeten und wer so betet, versammelt die Weltgemeinschaft gedanklich zu einer Menschheitsfamilie. Der Weg dorthin ist offenkundig weit und immer wieder von Rückschlägen begleitet. Gleichwohl bleibt es zentral und konsequent, darauf hinzuweisen: dieser Weg ist ohne Alternative! Auf welchem Weg die Nacht der Kriegs- und Gewaltbereitschaft unter der Menschheit endet, erzählt mit entwaffnender Überzeugungskraft die folgende chassidische Geschichte.
Ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“, fragte einer seiner Schüler. „Nein“, sagte der Rabbi. „Ist es, wenn man einen Apfelbaum von einer Birke unterscheiden kann?“, fragte ein anderer. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“, fragten die Schüler. „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“
Christian Bald ist Superintendent des Kirchenkreises Bielefeld und Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirchen von Westfalen.
