Krankheitssymptome von Frauen werden nach Auffassung der Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, Christiane Groß, von Ärztinnen und Ärzten zu oft falsch eingeschätzt. Woran das liegt und welche Folgen das für Patientinnen haben kann, erklärt die Wuppertaler Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und ärztliches Qualitätsmanagement dem Evangelischen Pressedienst (epd). Groß fordert eine geschlechtersensible Medizin.
epd: Frau Groß, Frauen sind in der medizinischen Forschung immer noch unterrepräsentiert. Krankheitssymptome von Frauen sind häufig weniger bekannt, Medikamente oft nicht auf sie abgestimmt. Woran liegt es, dass die Medizin Frauen jahrelang regelrecht übersehen hat?
Christiane Groß: Hauptsächlich hat das damit zu tun, dass Wissenschaft lange Zeit vorwiegend durch Männer vorangetrieben wurde. Auch heute noch sind in vielen Bereichen der Wissenschaft mehr Männer als Frauen zu finden, wodurch oft der Blick der weiblichen Seite fehlt. Es war üblich, zu denken, was beim Mann erforscht wurde, passt auch zur Frau. Auch beim Mann hat man versucht, die Konditionen zu vereinfachen. Man forscht, wann immer es geht, an einem Norm-Mann mit einer gewissen Größe, einem gewissen Alter, einem gewissen Gewicht. Und gesund muss er natürlich auch sein. Hormonzyklen wie bei der Frau stören. Schwangerschaften sind Hindernisse.
epd: Und an diesen Standards gab es nie Kritik?
Groß: Man hat sich schlicht und ergreifend bis in die 1960er Jahr wenig Gedanken darüber gemacht. Hinzu kommt aber auch, dass bis heute noch männliche Versuchstiere einfacher zu beurteilen sind, weil sie keinen weiblichen Hormonzyklus haben, den man immer mitbeachten müsste. Außerdem sind männliche Versuchstiere auch zum Teil günstiger zu beschaffen und bei den weiblichen droht immer das Risiko einer Trächtigkeit, was die Ergebnisse unberechenbar machen würde. In der Pharmaforschung an menschlichen Probanden war neben der Schwierigkeit, den weiblichen Hormonzyklus mit in die Berechnung einzuordnen, auch die Gefahr der Schwangerschaft der Versuchsperson ein wichtiges Argument, Frauen in den Studien lange Zeit auszuschließen.
epd: Seit wann findet hier ein Umdenken statt?
Groß: Erst seit den 1990er Jahren sind die Vorgaben verändert, und Frauen müssen seit 2004 zwingend in die Arzneimittelstudien aufgenommen werden, wenn ein Medikament für Frauen und Männer zugelassen werden soll.
epd: Werden Frauen bei körperlichen Symptomen häufiger psychische Erkrankungen wie zum Beispiel eine Angststörung fälschlicherweise diagnostiziert als bei Männern? Und wenn ja: Woran könnte das Ihrer Einschätzung nach liegen?
Groß: Das ist am Beispiel des Herzinfarkts zu veranschaulichen. Die Symptome der Frau sind oft leiser, also nicht so typisch wie die bekannten Herzinfarktsymptome des Mannes. Lange Zeit galt zudem, dass die Frau durch ihre im Zyklus ausgeschütteten Hormone geschützt sei. Inzwischen weiß man, dass durch Stress als Auslöser Frauen genauso betroffen sein können. Die beruflichen Situationen der Frauen haben sich verändert und gleichen sich denen der Männer an. Auch fertile Frauen können einen Herzinfarkt bekommen.
epd: Welche Annahme folgt daraus?
Groß: Wenn nun die Symptome leiser und untypisch sind und man fälschlicherweise davon ausgeht, dass Frauen zumindest bis zu einem gewissen Alter keinen Herzinfarkt haben können, dann folgt daraus leider leicht die Annahme, dass es sich dabei um psychische Symptome handeln könnte. Hinzu kommt, dass Frauen ihrerseits die Symptome falsch einschätzen, weil sie die frauentypischen Variationen der Symptome vielleicht nicht kennen. Zusätzlich werden die Symptome zu Hause oft nicht ernst genommen, Frauen werden im Vergleich zu Männern seltener animiert, sofort Hilfe zu holen oder sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Sie werden auch von Familienangehörigen nicht, wie beim Herzinfarkt eines Mannes, dazu gedrängt, den Notarzt zu rufen. Zusätzlich sind sie oft selbst damit beschäftigt, die Symptome herunterzuspielen und Aufgaben noch zu erledigen. Hier addieren sich also Interpretationsfehler. Daher besteht eine größere Gefahr, dass der Arzt oder die Ärztin dann leichter zu dem Schluss kommen kann, dass es sich eher um psychische als somatischen Symptome handelt.
epd: Welche gesundheitlichen Folgen hat es für Frauen, dass das männerzentrierte Gesundheitssystem sie oft übergeht? Und gibt es auch Nachteile für Männer?
Groß: Wieder am Beispiel des Herzinfarkts: Aus den bereits aufgeführten Vorgängen besteht für Frauen ein höheres Risiko, den Herzinfarkt nicht ohne Schäden oder sogar nicht zu überleben. Aber natürlich gibt es auch Erkrankungen, wo es nicht solch drastischen Folgen hat. Und es gibt Gegenbeispiele, in denen der Mann das Nachsehen hat. Ein Gegenbeispiel ist die Depression. Hier kennen wir hauptsächlich die Symptome bei den Frauen. Hinzu kommt, dass Männer sich weniger eingestehen können, an einer Depression erkrankt zu sein. Sie stellen die Diagnose infrage, weil sie doch „nur“ Schmerzen haben oder andere körperliche Symptome überwiegen.
epd: Kann Gendermedizin in Kombination mit medizinisch sensibilisierten Fachkräften die Lösung sein für mehr Gleichberechtigung in der Medizin?
Groß: Absolut! Die jungen Ärztinnen und Ärzte kommen während ihrer Weiterbildungszeit mit dem Thema in Kontakt. Heute wissen schon viele Menschen, dass es wichtig ist, zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden. Aber beispielsweise trauen sich noch zu wenige Menschen, ihren Arzt oder ihre Ärztin zu fragen, ob die Dosierung der Medikamente auch für die jeweilige Person stimmt. Es ist zu wenig über unterschiedliche Symptome von Erkrankungen bekannt. Ich denke, je mehr es von den Patienten und Patientinnen eingefordert wird, umso schneller wird geschlechtersensible Medizin umgesetzt. Aber leider warten wir schon seit Jahren auf die Umsetzung einer neuen Approbationsordnung. Der Entwurf liegt vor und legt schon im Studium viel mehr Wert auf die Berücksichtigung der geschlechtersensiblen Medizin. Doch leider setzt hier die Politik den Plan nicht um, also bleibt es nur weiter in der Weiterbildung und in der Fortbildung die zusätzliche Qualifikation erarbeiten.
epd: Könnte es also noch einige Jahre dauern, bis Gleichberechtigung in der Medizin herrscht?*
Groß: Jetzt ist die Thematik zumindest schon mal in der Gesellschaft angekommen, überall wird das Thema aufgenommen, daher bin ich sehr hoffnungsvoll, dass sich jetzt ein großer Schub zeigt. Denn für mich sind geschlechterspezifische Medizin für Frauen und geschlechterspezifische Medizin für Männer auch der Einstieg in die personalisierte Medizin. Also Medizin für jeden einzelnen Menschen – individuell.