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Ärztepräsident fordert mutige Reformen im Gesundheitswesen

Deutschland gibt im EU-Vergleich sehr viel für Gesundheit aus. Dennoch ist die Lebenserwartung geringer als anderswo. Ärztepräsident Reinhardt fordert ein Umsteuern.

Der Präsident Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, fordert ein Umsteuern im deutschen Gesundheitssystem. Die Gesundheitsversorgung sei zu teuer und zu ineffizient, sagte er am Dienstag in Berlin. Die durchschnittliche Lebenserwartung sei geringer als in anderen europäischen Ländern, obwohl die Bundesrepublik bei den Gesundheitsausgaben weit vorn liege.

Ziel müsse es sein, ein stärkeres Gewicht auf Gesundheitskompetenz und Vorbeugung zu legen, sagte der Ärztekammer-Chef. Das müsse schon im Kindergarten und in der Schule beginnen. Aus Sicht von Reinhardt ist das Gesundheitswissen der Deutschen seit 20 Jahren rückläufig. Er brachte eine Zuckersteuer und Gesundheitsabgaben für Alkohol und Nikotin ins Gespräch. “Die Gewinninteressen der Lebensmittellobby dürfen nicht länger über das Wohl der Kinder gestellt werden”, so der Mediziner. Außerdem müssten Sport und Bewegung gefördert werden – in Schulen und Vereinen, aber auch durch Verkehrsinfrastruktur und das Radfahren.

Reinhardt wies darauf hin, dass in Deutschland hunderttausende Menschen an den Folgen vermeidbarer Krankheiten sterben. Herz-Kreislauf-Erkrankungen kosteten das Gesundheitssystem Jahr für Jahr rund 60 Milliarden Euro. “Dabei könnten durch Prävention und gesunde Lebensführung rund 70 Prozent dieser Krankheitsfälle und die daraus resultierenden Kosten vermieden werden”, sagte er.

Darüber hinaus forderte Reinhardt eine bessere Steuerung der Patienten. Deutschland sei das einzige Land weltweit, das es komplett den Patienten überlasse, welche Ärzte und Gesundheitseinrichtungen sie aufsuchten. Das führe zur Überlastung von Notaufnahmen in Krankenhäusern und Praxen und langen Wartezeiten auf Arzttermine. Der Ärztekammer-Präsident verwies auf Schätzungen in einzelnen Regionen, nach denen rund die Hälfte der Patienten pro Quartal mehr als einen Hausarzt aufsuchten. Reinhardt sprach sich dafür aus, es sollte zum Normalfall werden, dass sich Patientinnen und Patienten bei einer Hausarztpraxis einschreiben, die dann die Koordinierung der Weiterbehandlung übernimmt.

Von der kommenden Bundesregierung forderte der Ärztekammer-Chef zudem konkrete Maßnahmen, um die Finanzierung der Krankenversicherung sicherzustellen. Mit Blick auf die steigenden Kassenbeiträge verlangte er, versicherungsfremde Leistungen über Steuern zu finanzieren. Nötig sei auch eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel wie bei Tierarzneimitteln von 19 Prozent auf sieben Prozent. “Wir reden hier nicht von Peanuts. Durch eine solche Absenkung würden die Krankenkassen etwa sechs Milliarden Euro jährlich einsparen”, so Reinhardt.

Um die Folgen des Ärztemangels zu lindern, sollte Ärztinnen und Ärzten im Ruhestandsalter die Möglichkeit gegeben werden, sich weiter in die Patientenversorgung einzubringen, wenn sie dazu bereit sind. Reinhardt schätzt das Potenzial auf etwa 20.000 zusätzliche Vollzeitstellen. Dafür brauche es mehr sozialpolitische Spielräume und Möglichkeiten, Ärzte im Ruhestandsalter in Teilzeit anzustellen. Zusätzlich sollte durch steuerrechtliche Regelungen und Befreiung von der Sozialversicherungspflicht die Abgabenlast verringert werden.

Um Ärztinnen und Ärzte mehr Zeit für die eigentliche Patientenversorgung zu geben, schlägt Reinhardt eine dreijährige Bürokratie-Taskforce von Politik und Selbstverwaltung vor. Diese soll bereits vorliegende Einzelvorschläge zum Bürokratieabbau aufgreifen, um so die Bürokratiebelastung im Gesundheitswesen um mindestens zehn Prozent pro Jahr zu senken.