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872 Tage unvorstellbares Leid

Vor 75 Jahren endete die Belagerung von Leningrad. Die Blockade kostete unzählige Leben und prägt das Leben im heutigen St. Petersburg noch immer. Dazu ein Interview mit der Historikerin Ekaterina Makhotina, die aus der Stadt stammt

Welches Schicksal Adolf Hitler Leningrad, der „Wiege des Bolschewismus“, im Zweiten Weltkrieg zugedachte, daran ließ er nicht den Hauch eines Zweifels. Der „Führer“ sei entschlossen, die Stadt „vom Erdboden verschwinden zu lassen“, heißt es in einem Schreiben der deutschen Seekriegsleitung vom September 1941.  Etwa zur gleichen Zeit wurde der Blockadering um Leningrad weitgehend geschlossen. Die rund 2,5 Millionen Einwohner Leningrads sollten an Hunger und Erschöpfung sterben, wenn sie nicht schon vorher aufgrund von Bombardements aus der Luft oder Artilleriebeschuss umkamen. Erst am 27. Januar 1944, vor 75 Jahren, gelang es der sowjetischen Armee in ihrem sechsten Versuch, die Blockade zu brechen. Was sich in den dazwischenliegenden Tagen innerhalb ihrer Mauern abspielte, prägt die Stadt bis heute.  Anders als die Schlacht um Stalingrad ist das Geschehen rund um das heutige Sankt Petersburg in Deutschland weitaus weniger präsent. Die Bonner Historikerin Ekaterina Makhotina (36) stammt aus der Stadt – und erläutert im Gespräch mit Joachim Heinz Unterschiede im russischen und deutschen Gedenken an eines der dunkelsten Kapitel des von den Nationalsozialisten geführten Vernichtungskrieges im Osten Europas.

Frau Makhotina, vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 belagerten deutsche Truppen Leningrad – mit welchem Ziel?
Von Anfang an spielte Leningrad eine zentrale Rolle in den Kriegsplänen von Adolf Hitler. Die „Wiege des Bolschewismus“ sollte als erste sowjetische Großstadt „dem Erdboden gleichgemacht“ werden. Die Weisung lautete, die Stadt nicht zu erobern, sondern sie abzuschließen und durch Hunger und Artilleriebeschuss zu vernichten. Das macht Leningrads Schicksal zu einem Sonderfall der Geschichte.

Was bedeutete das für die Bevölkerung von Leningrad?
Zum Zeitpunkt der Einkesselung lebten rund 2,5 Millionen Menschen in Leningrad. Schätzungen gehen von 800 000 bis über eine Million Opfern aus, die dem fortwährenden Beschuss, vor allem aber dem Hunger und dem Frost zum Opfer fielen, viele davon im Todeswinter 1941/42.

Also direkt zu Beginn der Blockade.
Die Temperaturen sanken teilweise auf minus 35 bis minus 40 Grad. In der Stadt gab es keinen Strom und keinen Brennstoff; die Verkehrsmittel fielen aus, die Wasserleitungen platzten, und die Leningrader mussten weite Wege zur Arbeit oder auf der Suche nach Essen und Holz zu Fuß zurücklegen. Das erforderte eine immense Kraftanstrengung. Auf offener Straße brachen viele Menschen zusammen. Der Anblick von erfrorenen Toten gehörte bald zur täglichen Erfahrung, man stumpfte ab.

Grausame Ironie der Geschichte: Ohne den Frost hätte es die „Straße des Lebens“ nicht gegeben.
Über den zugefrorenen Ladogasee war es in der Tat möglich, Frauen und Kinder aus der Stadt heraus- und Lebensmittel für die Belagerten hineinzubringen.

Die Deutschen und ihre finnischen Waffenbrüder haben das zugelassen?
Nein. Die Passage war immer wieder Ziel von Luftangriffen, die Evakuierungsfahrzeuge gingen im Wasser unter, da die Granaten das Eis brachen. Doch es war die einzige Verbindung Leningrads mit der Außenwelt.

Ähnlich wie das Radio – auffallend viele Menschen erinnerten sich im Nachhinein an die Sendungen mit der Dichterin Olga Bergholz.
Sie war so etwas wie die Stimme der Belagerten. Für die Menschen war das Radio unheimlich wichtig, weil sie sich in dieser Extremsituation weniger allein fühlten. Olga Bergholz hat in ihren Gedichten die Erfahrungen der Einwohner verarbeitet: den Hunger, das wässrige Blockadebrot, die Schlitten mit den Toten, in Laken eingewickelt.

Wie gingen Menschen mit dem ständigen Hunger um?
Grundsätzlich verarbeiteten die Leningrader alles, was sie hatten, zu Nahrung: Lederwaren, Tapetenkleister, Holzleim, ihre Haustiere; sie führten Tagebücher, um sich abzulenken oder um sich zu disziplinieren und nicht die ganze Lebensmittelration auf einmal aufzuessen; sie tauschten alle ihre Wertgegenstände: Pelz, Gold- und Silberschmuck, Kunst – gegen etwas Brot. Das menschliche Miteinander reichte von Mitgefühl und Hilfe bis zu Grausamkeit und Gewalt.

Die Schlacht um Stalingrad steht in Deutschland für die Wende des Krieges – und war lange Zeit eine Chiffre für einen „Opfergang“ der Wehrmacht. Der verbrecherische Charakter des von Hitler entfesselten Krieges, wie er sich in Leningrad zeigte, stand da eher im Hintergrund.
Da ist in den vergangenen Jahrzehnten vieles in Bewegung gekommen. Nichtsdestotrotz ist im deutschen Bewusstsein die verbrecherische Dimension des Krieges im Osten noch nicht besonders präsent, und dazu gehört einer seiner Schauplätze: die Belagerung Leningrads.

Im Jahr 2014 sprach der russische Schriftsteller und Zeitzeuge Daniil Granin im Bundestag am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
Ein wichtiger Schritt. Im vergangenen Jahr erschien zudem die vollständige Fassung des von ihm und Ales Adamowitsch verfassten „Blockadebuchs“ in deutscher Sprache, das die Erinnerungen von ganz gewöhnlichen Einwohnern Leningrads dokumentarisch aufbereitete.

Das Buch stammt aus den 1970er Jahren – wie wurde es in der damaligen Sowjetunion aufgenommen?
Die sowjetische Zensurbehörde strich alles Verstörende und Traumatische des Blockade-Alltags aus dem Manuskript.

Warum?
Die sowjetische Kriegserinnerung war bis zur Perestroika heldenorientiert, auch die Blockade-Erinnerung unterstrich stets die heroische Tat der Überlebenden, die die belagerte Stadt mit großem Opfermut verteidigten. Doch inzwischen rücken die individuellen Schicksale, das Leben und Überleben in der Stadt, immer mehr in den Vordergrund.

Woran machen Sie das fest?
Zum Beispiel an einer gerade im Entstehen begriffenen großen Gedenkstätte mit Forschungszentrum in Petersburg. Dort geht es vor allem um die Opfer und ihre Alltagserfahrung. Wir wissen noch längst nicht alles über die 900 Tage der Belagerung.

Inwiefern unterstützt der russische Staat solche Bestrebungen?
Tatsächlich hängt die Aufwertung der Blockade-Erinnerung mit der Herkunft der politischen Elite zusammen: Sowohl Ministerpräsident Dmitri Medwedew als auch Präsident Wladimir Putin sind in Leningrad geboren, Putins älterer Bruder starb als Kleinkind in der Belagerung. Zudem gehört Erinnerung an die Blockade zum Teil der städtischen Identität. Aber wichtig ist, dass diese und andere Initiativen nicht „von oben“ verordnet werden, sondern von unten kommen und von der ganzen Bevölkerung getragen werden.

In Berlin gibt es Überlegungen zu einem Denkmal für die Opfer der Vernichtungskriege im Osten. Zwei Vorschläge stehen im Raum: einer für einen Erinnerungsort an die Opfer des Überfalls auf Polen, ein anderer, der alle Opfer der NS-Lebensraumpolitik einschließen will. Wie beurteilen Sie das Ganze?
Persönlich empfinde ich eine Nationalisierung des Gedenkens, das heißt eine Aufteilung nach nationalen Opfergruppen, als problematisch, da sie häufig auf ahistorischen Zuschreibungen basiert und einer Emotionalisierung der Erinnerung Vorschub leistet. Die Erinnerung an den Vernichtungskrieg im Osten braucht über das Gedenken an die Opfer hinaus ein anderes Format. Es sollte nicht nur ein Gedenkort, sondern vor allem ein Lernort, ein Ort des Austausches errichtet werden. Aber unabhängig davon würde ich mir eine wirklich breite Debatte darüber wünschen, die nicht nur auf der politischen Ebene stattfindet – und die auch der Vielfältigkeit der Erinnerungskulturen im östlichen Europa gerecht wird.

Womit wir wieder in Leningrad wären.
Die Belagerung Leningrads ist ein tragisches, aber ungemein wichtiges Kapitel der deutsch-russischen Geschichte und ein ergreifendes Beispiel einer Versöhnungsleistung der Gesellschaften. Nachkriegsbiographien von Heinrich Böll und Lew Kopelew oder Helmut Schmidt und Daniil Granin zeigen sehr gut, dass in der Generation der Beteiligten das Bedürfnis nach Aussöhnung und Ausgleich präsent war. Die letzten Zeitzeugen des Krieges werden bald nicht mehr unter uns sein. Umso wichtiger ist es, den Dialog über die gemeinsame Geschichte, die unsere Gesellschaften verbindet, nicht abreißen zu lassen.