Angriffe auf Gaza, das Westjordanland, Libanon und Syrien: Israels Reaktion auf den 7. Oktober 2023 hat den Nahen Osten aus dem Gleichgewicht gebracht. Zwei Jahre später ist die Region noch immer dabei, sich zu ordnen.
2025 im Nahen Osten war ein Jahr zum Davonlaufen. Genau das haben viele Menschen getan. In Israel ist die Bilanz von Ab- zu Zuwanderung aller Voraussicht nach wieder negativ. In den besetzten palästinensischen Gebieten, dem Libanon und dem Iran hielten Abwanderungsbewegungen an oder verschärften sich. Einzig in Syrien setzte nach dem Fall des Assad-Regimes ein Rückkehrtrend ein. Mittlerweile herrscht an den diversen Fronten relative Ruhe. Dennoch hält sich bei vielen Beobachtern der Pessimismus.
“Der Ausbruch des Israel-Palästina-Konflikts am 7. Oktober 2023 markierte nicht nur den Beginn des Krieges zwischen den beiden Seiten, sondern auch einen Wendepunkt, an dem die gesamte geopolitische Architektur des Nahen Ostens einen tiefgreifenden Wandel erfuhr”, analysierte Orsam, ein Ankara beheimateter Think-Tank für Nahost-Studien. Er habe eine Kettenreaktion ausgelöst, die mit weitreichenden Folgen von Gaza zum Libanon, Syrien, Iran und weiteren Ländern das regionale Gleichgewicht gestört habe.
Das Jahr 2025 begann mit gleich zwei Waffenstillständen. An der libanesisch-israelischen Front konnte ein im November des Vorjahres geschlossenes Abkommen verlängert werden. Es hält weiterhin, wenngleich Israel seither durchschnittlich einmal am Tag südlibanesisches Gebiet angreift.
Auch im Gazastreifen hielt vom 19. Januar bis Anfang März eine Waffenruhe. 33 in den Gazastreifen verschleppte Geiseln wurden in dieser Zeit übergeben, acht von ihnen tot. Israel entließ 1.900 palästinensische Häftlinge. Gleichzeitig begann es eine massive Militäroperation im Westjordanland. Unter dem Namen “Eiserne Mauer” und mit der Begründung der Terrorbekämpfung griff die Armee Flüchtlingslager an. Dabei starben nach palästinensischen Angaben Dutzende Zivilisten, Zehntausende mussten ihre Häuser verlassen. Auch mit neuen Gesetzen zeigte Israel Härte: Seit Januar ist dem UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser (UNRWA) die Tätigkeit auf israelischem Gebiet verboten, israelische Behörden dürfen keinen Kontakt mehr zu UNRWA unterhalten.
Nach dem Bruch der Waffenruhe eskalierte Israel die Gewalt im Gazastreifen. Dort stieg die Zahl der Toten nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums auf über 70.000. Über Wochen riegelte Israel Gaza komplett ab. Humanitäre Helfer lancierten einen Appell nach dem nächsten, warnten vor Hungersnot und Zwangsvertreibung. US-Präsident Donald Trump beflügelte mit seiner ans Absurde grenzenden Idee einer “Riviera des Nahen Ostens” an der Küste Gazas die Fantasien der nationalreligiösen israelischen Rechtsextremen, die unverhohlen von einer Zwangsumsiedlung der Palästinenser und einer jüdischen Besiedlung Gazas sprechen.
Am 11. Oktober trat erneut ein Waffenstillstand in Kraft, der demnächst in seine zweite Phase übergehen soll. Alle 20 noch lebenden israelischen Geiseln und die sterblichen Überreste von 27 der 28 ermordeten sind seither nach Israel überführt worden. Die Armee setzt unterdessen ihre Militäraktionen in Gaza fort. In 60 Tagen des Waffenstillstands seien 386 Zivilisten getötet werden, so das Hamas-Medienbüro in Gaza am 9. Dezember.
Die dramatischste Zuspitzung des Konflikts erlebte die Region im Juni, als Israel den Iran angriff und damit einen zwölftägigen Krieg auslöste, der für Israel mit ungewohnt hohen zivilen Opferzahlen und einer nicht gekannten Zerstörung endete.
Israel löste mit seiner Politik Gegenreaktionen im Westen aus. Unter anderem die Anerkennung Palästinas durch weitere westliche Staaten wie Frankreich, Kanada oder Großbritannien darf als Resultat gewertet werden. Auf insgesamt 157 von 193 UN-Mitgliedstaaten stieg die Zahl derer, die Palästina anerkennen. Israel lässt unterdessen keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass es keinen palästinensischen Staat zulassen werde. Die “souveräne Macht über die Sicherheit vom Jordan bis zum Mittelmeer” werde “immer in den Händen Israels bleiben”, erklärte Israels Ministerpräsident unmissverständlich an einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Friedrich Merz in Jerusalem.
Die Situation im Westjordanland verschärfte sich 2025 dramatisch. Neben der Freigabe des umstrittensten aller israelischen Siedlungsprojekte – dem Ausbauplan für den sogenannten E1-Korridor zwischen Jerusalem und der Siedlung Maaleh Adumim – hatten Palästinenser mit Hauszerstörungen, Armeegewalt und immer entfesselter Gewalt israelischer Siedler zu kämpfen.
Etwa bei der Olivenernte: Immer häufiger und immer brutaler greifen Siedler die Olivenbauern und ihre Helfer an. Armee und Polizei schauen im besten Fall weg. Die Gewalt sei “explosionsartig” gestiegen, ebenso Repressalien israelischer Sicherheitskräfte gegen die Bauern, befand das UN-Menschenrechtsbüro. Geahndet werden die Übergriffe in aller Regel nicht, obwohl viele von ihnen genauestens dokumentiert sind. Stattdessen weitete Israel sein Vorgehen gegen internationale Unterstützer der Palästinenser aus. Ob Hilfsflotte für Gaza oder Erntehelfer: Dutzende Aktivisten schob das Land 2025 ab.
Auch für Medienschaffende hat sich das Klima verschärft. Verunglimpfung freier Berichterstattung, gegen ausländische Medien gerichtete Gesetzesvorhaben und gezielte Angriffe israelischer Amtsträger auf einzelne Journalisten wie etwa die ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann bedrohen die Pressefreiheit. Der Gazastreifen bleibt auch zwei Jahre nach Kriegsbeginn und trotz anhaltender Waffenruhe für unabhängigen und freien Zugang für Medienvertreter zu.
Unterdessen mauert sich Israel immer weiter ein. Im November begann es mit dem Bau einer Mauer zum Südlibanon – auf libanesischem Territorium, wie UN-Vertreter beanstanden. Im Dezember wurden Arbeiten an einer Mauer zum östlichen Nachbarn Jordanien aufgenommen. Die Anlage soll einst auf rund 500 Kilometern Länge vom Süden der von Israel besetzten Golanhöhen den Jordangraben entlang bis nördlich von Eilat reichen. Die Mauern zu Ägypten, Gaza und dem Westjordanland stehen teils seit mehr als 20 Jahren.
Die israelischen Luftangriffe auf den Libanon und Syrien schwächen die Stabilität der Länder. Die Gewalt zwischen Beduinen, die von syrischen Regierungstruppen unterstützt werden, und Drusen im südwestsyrischen Suweida im Sommer nahm Israel zum Anlass, seine Angriffe bis auf die Hauptstadt Damaskus auszudehnen. Bei Feiern zum ersten Jahrestag des Sturzes Assads in Damaskus sollen syrische Soldaten Widerstand gegen Israel geschworen haben, das weiterhin die Pufferzone in Südsyrien militärisch besetzt hält.
Der Libanon kämpft weiterhin mit innenpolitischen Problemen, allem voran der Wirtschaftskrise, die viele Libanesen in Armut und das Land an den Rand des Bankrotts geführt haben. Immerhin gelang nach fast zwei Jahren politischem Stillstand die Wahl eines neuen Präsidenten, des maronitischen Christen Joseph Aoun, sowie die Bildung einer neuen Regierung unter dem sunnitischen Ministerpräsident Nawaf Salam. Der Besuch von Papst Leo XIV. Ende November brachte nach Worten des maronitischen Patriarchen Kardinal Béchara Rai “eine Atmosphäre von Verhandlungen und Frieden”, die die Gefahr eines erneuten Kriegs mit Israel in die Ferne rücken lasse.