Eigentlich war es eine Notlösung – und kein Mensch konnte auch nur im Entferntesten ahnen, dass er die Geburtsstunde des berühmtesten Weihnachtslieds der Welt miterleben würde: Weihnachten 2018 ist es genau 200 Jahre her, dass zum ersten Mal „Stille Nacht“ gesungen wurde. Anlass für ein ganzes „Stille Nacht“-Jahr.
Jahr für Jahr tönt es „laut von fern und nah“ – etwa bei Kerzenschein in der Christmette. Oder beim „trauten hochheiligen Paar“ zu Hause – selbst gesungen oder von CD in einer der ungezählten Versionen. „Stille Nacht“ ist und bleibt das mit Abstand beliebteste Weihnachtslied. Gegen den „holden Knaben im lockigen Haar“ hat selbst George Michaels Föhnwelle bei „Last Christmas“ keine Chance.
Dabei war der Erfolg keineswegs absehbar, als das Lied entstand. Joseph Mohr war 1792 als drittes von vier unehelichen Kindern einer Strickerin in Salzburg zur Welt gekommen. Sein Vater war ein Deserteur, als Taufpate war zunächst der Scharfrichter der Stadt im Gespräch – nicht gerade feine Gesellschaft also.
Ein Vikar des Salzburger Domchors erkannte aber das Talent des kleinen Joseph und machte den Besuch des Gymnasiums möglich und das Studium der Philosophie. Für den Eintritt ins Priesterseminar brauchte er eine Sondererlaubnis – wegen der unehelichen Herkunft. Und 1815 wurde er tatsächlich zum Priester geweiht.
Seine erste Stelle als Hilfsgeistlicher trat Mohr in Mariapfarr an, rund 130 Kilometer südöstlich von Salzburg. Weil er aber immer wieder kränkelte, kam er 1817 zurück in die Nähe seiner Heimat, und zwar nach Oberndorf an der Salzach, direkt an der deutschen Grenze.
Mohr war das dritte von vier unehelichen Kindern
Dazwischen lag das Jahr 1816, das als das „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte einging. Nach einem Vulkanausbruch in Indonesien war es ungewöhnlich kalt in Mitteleuropa, sogar im Juni fiel zum Teil Schnee. An vielen Orten fiel die Ernte aus, Millionen litten Hunger, Zehntausende starben. Zudem litt Europa an den Folgen der Napoleonischen Kriege.
In dieser Zeit der Sehnsucht nach Frieden und besseren Zeiten – nach „himmlischer Ruh“ und „rettender Stund“ – schrieb Mohr ein Gedicht mit insgesamt sechs Strophen, von denen heute meist nur noch die erste, zweite und sechste gesungen werden. Vermutlich schrieb Mohr im Dezember 1816 „Stille Nacht“ nur für sich.
Jedenfalls hatte er sein Gedicht offenbar schnell wieder vergessen. Viel mehr ist über den Ursprung des Textes nicht bekannt – und selbst dieses wenige wurde erst 1995 entdeckt, als eine Handschrift auftauchte, in der Mohr selbst 1816 als Entstehungsjahr notiert hatte.
Bis dahin hieß es, Mohr habe den berühmten Text spontan Heiligabend 1818 zu Papier gebracht, nur Stunden, bevor das Lied zum ersten Mal gesungen wurde. Und daran waren die hungrigen Kirchenmäuse nicht unschuldig. Denn die hatten an der altersschwachen Orgel der Oberndorfer Kirche den Blasebalg kaputtgenagt – und das direkt vor Weihnachten.
Was also tun? Aushilfspfarrer Mohr erinnerte sich in dem Moment offenbar an sein Gedicht und fand auch den Zettel mit dem Text wieder. Daraufhin fragte er den Dorflehrer, Kantor und Organisten Franz Xaver Gruber, ob er nicht schnell eine Melodie dazu schreiben könne – für zwei Männerstimmen und eine Gitarre.
Er konnte: Und zum Schluss der Christmette spielte Mohr Gitarre und sang Tenor, Gruber sang den Bass dazu. „Das Lied hat gefallen“, wurde als erste Reaktion der Gemeinde überliefert, die überwiegend aus armen Salzach-Schiffern und ihren Familien bestand. „Christ, der Retter ist da“ muss auch in ihren Ohren verheißungsvoll geklungen haben. Auch wenn sie nicht ahnen konnten, die Premiere des berühmtesten Weihnachtsliedes der Welt miterlebt zu haben.
Die Kraft der Botschaft des Friedens
Auch Mohr und Gruber hätten sich das nie träumen lassen. Schon 1819 trennten sich für immer ihre Wege: Der kränkliche Mohr wurde noch viele weitere Male zwangsversetzt bis zu seinem Tod 1848. Weitere Texte von ihm sind nicht bekannt. Als Gruber aber 1863 starb, hinterließ er nicht nur zwölf Kinder von drei Frauen, sondern auch mehr als 90 Kompositionen.
Den Siegeszug von „Stille Nacht“ aber brachte wohl vor allem ein Orgelbauer auf den Weg, der bei der Reparatur der Oberndorfer Orgel einen Zettel mit Text und Noten fand und mitnahm ins heimische Zillertal. Von dort fand das Lied langsam aber sicher den Weg in alle Welt.
Zur Wirkungsgeschichte gehören dabei nicht nur unzählige mehr oder weniger besinnliche Coverversionen und ein „Christmas Wonderland“ mit Stille-Nacht-Kapelle in den USA, sondern auch Begebenheiten aus dem Ersten Weltkrieg: Gleich von mehreren Fronten ist überliefert, dass verfeindete Truppen an den Weihnachtstagen kurzfristig die Waffen schweigen ließen, um zwischen den Schützengräben gemein-sam „Stille Nacht“ anzustimmen.
Seit 2011 ist das Lied nationales immaterielles Unesco-Kulturerbe Österreichs. Und Jahr für Jahr an Weihnachten singen geschätzt mehr als zwei Milliarden Menschen in inzwischen weit mehr als 200 Sprachen „alles schläft, einsam wacht“ und „Gottes Sohn, o, wie lacht“.
Das Salzburger Land und die Stille-Nacht-Gesellschaft haben das Stille-Nacht-Jahr 2018 eingeläutet und dazu sogar Papst Franziskus eingeladen. Sie betonen dabei vor allem die Kraft der Botschaft des Friedens: „Vor allem in Zeiten internationaler Krisen und Umbrüche ist die Besinnung auf den Frieden als wesentliche Komponente des Zusammenlebens aktueller denn je“, hieß es bei der Eröffnung des neuen Stille-Nacht-Museums in Oberndorf. Eine Botschaft, an die in diesen Zeiten sicher viele gerne glauben – und dabei auf eine tatsächlich stille Nacht hoffen.