Predigttext
1 Im dritten Monat des Auszugs der Israeliten aus dem Land Ägypten, genau an diesem Tag, erreichten sie die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und erreichten die Wüste Sinai und lagerten in der Wüste. Dort lagerte Israel dem Berg gegenüber. 3 Mose aber stieg hinauf zu Gott. Da rief JHWH zu ihm vom Berg her: „So sollst du zum Haus Jakobs sagen und den Israeliten verkünden: 4 Ihr selbst habt gesehen, was ich Ägypten getan habe. Dann habe ich euch auf Geiersflügeln getragen und euch zu mir gebracht. 5 Jetzt aber, wenn ihr wahrhaftig auf meine Stimme hören werdet, meinen Bund bewahren werdet, dann werdet ihr mein eigenes Volk unter allen Völkern sein, wenngleich mir die ganze Erde gehört, 6 werdet ihr mir aber ein priesterliches Königreich sein, ein heiliges Volk. Dies sind die Worte, die du zu den Israeliten sprechen sollst.“
Übersetzung von Christoph Dohmen,
Herders Theologischer Kommentar AT
Ein Versprechen von Freiheit“ – so betitelt eine der großen Tageszeitungen einen Artikel zur Einigung über den digitalen Impfnachweis, der überall gelten soll. Darin geht es zwar in erster Linie nur um uneingeschränkte Reisemöglichkeiten – das wiederkehrende Stichwort ist „Sehnsuchtsziel“. Aber von „Freiheit“ in Bezug auf die Post-Covid-Ära wird ja zurzeit auch an vielen anderen Stellen gesprochen.
Und dies spiegelt das Lebensgefühl wider, das wohl bei den meisten Menschen während der letzten anderthalb Jahre prägend war: ein Leben mit ständig angepassten Einschränkungen, leichten Lockerungen, dann wieder Festzurren. Zügelloses Ausgaloppieren gibt es nicht, noch nicht, vielleicht nie mehr – unabhängig davon, ob der digitale Impfnachweis funktioniert oder nicht. Und dann auch die Angst oder zumindest Sorge, das große „Versprechen von Freiheit“ könne sich als ein falsches Versprechen erweisen.
Was tun mit der neuen Freiheit?
Um verheißene Freiheit, um Ausbruch aus Einschränkung, Zwang und Eingesperrt-Sein und um Aufbruch zu einem Sehnsuchtsziel geht es auch in der großen Erzählung vom „Gottesmann“ Mose im zweiten Buch der Bibel. Die Ankunft am Sinai markiert darin einen besonderen Moment. Denn jedem Befreiten stellt sich irgendwann die Frage: Wohin jetzt? Was mache ich mit der wiedergewonnenen Freiheit? Verwirklicht sich Freiheit im ziellosen Herumlaufen? Nach dem Motto: Egal wohin, egal wozu – Hauptsache uneingeschränkt!
„Ich habe euch zu mir gebracht“ – das sind die Worte, die Gott damals jenem Volk hat ausrichten lassen. Gott erweist sich als ein Gott, der Menschen zu sich bringt. Es ist geradezu wie eine Namensoffenbarung: „Ich bin der, der euch zu mir bringt.“
Mit diesem Zuspruch gewinnt die neu gewonnene Freiheit plötzlich eine Ausfüllung und eine Ausrichtung. Sie führt in eine Beziehung hinein. Sie setzt das befreite Volk in Bezug zu Gott und damit auch zu dessen Schöpfung, der Erde und ihrer Menschheit. Und dieses Volk kann plötzlich mit einer Stimme antworten: „Was Gott uns sagt, wollen wir tun.“ (vergleiche 2. Mose 19,8)
Wir Christen antworten auf diesen Gott der Nähe und Zugewandtheit, den Gott der Gnade und Barmherzigkeit mit unserem persönlichen Glauben. Als Einzelne wie als Gemeinde von Gläubigen.
Damals in Ägypten und am Sinai stand aber ein Volk Gott gegenüber. Ja, damals hat sich aus einem Haufen Geflüchteter ein Volk gebildet – im Gegenüber zu Gott.
Und in der Tat, so wichtig Gott der einzelne Mensch ist, so dürfen wir doch nicht vergessen: Die große Zielperspektive Gottes ist „die ganze Erde, die ihm gehört“ (2. Mose 19,5) und die Menschheit als Ganzes, die aus diesem Lebensraum erwachsen ist und die zu dessen pfleglicher Nutzung und Bewahrung bestimmt ist.
Wir stehen als Christenheit in der Gefahr, die Beziehung zu Gott zu vereinzeln, ihre Essenz im persönlich-individuellen Glauben zu sehen. Und das hat ja auch sein gutes Recht. Aber es ist eben nicht das Ziel. Das Ziel ist nicht individuell, sondern kollektiv. Auch Jesu Botschaft zielt bekanntlich auf ein Reich ab, ein Gottesreich oder „Himmelreich“.
Und daran erinnert uns Israel. Deshalb ist ein Sonntag des Kirchenjahrs Israel gewidmet, der „Israelsonntag“. Wir brauchen ihn.
Denn das Ziel, das sich die Kirche auf die Fahne geschrieben hat, ist noch lange nicht erreicht, und der Auftrag der Kirche ist noch lange nicht eingelöst: „gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“ (Markus 16,15), damit „Dein Reich komme…“.
Und solange dieses Ziel nicht verwirklicht ist, braucht es das Nebeneinander von Israel und Kirche, das Nebeneinander von Judentum und Christentum. Beide bezeugen je auf ihre Art und Weise den Gott, der damals am Gottesberg einem Gottesvolk sagte: „Ich habe euch zu mir gebracht.“