Artikel teilen:

Zerstörte Kirchengebäude, verwüstete Stadt

Zu viel, als dass der Libanon auch noch diese Katastrophe schultern könnte. Beirut nach der Explosion

Vor gut einer Woche, am Dienstag, dem 4. August, erschütterte eine Explosion die libanesische Hauptstadt Beirut. Sie zerstörte den Hafen und beschädigte weite Teile der Innenstadt und Gebäude in mehreren Kilometern Umkreis. Mehrere Hundert­tausende wurden obdachlos. Nach Protesten trat am Montag die Regierung zurück. Uwe Gräbe, Nahostreferent der „Evangelischen Mission in ­Solidarität“ beschreibt und kommentiert die Lage vor Ort.

Von Uwe Gräbe

Der Rauch über der Explosionsstelle in Beirut hat sich gelegt, und er gibt den Blick frei auf eine zu großen Teilen verwüstete Stadt. Rings um das Hafengelände herum ragen bizarre Häuserskelette in den Himmel. Der riesige Speicher, in dem sich ein Großteil des libanesischen Getreidevorrats befand, ist geplatzt, sein Inhalt hat sich vermischt mit pulverisiertem Beton. Die Gegend hier ist eine Mondlandschaft, die Leichen sind noch nicht geborgen, der Hafen voraussichtlich auf lange Zeit unbenutzbar.

Nur anderthalb Kilometer westlich von der Explosionsstelle, direkt an der Uferstraße, befindet sich die All Saints‘ Church. Sie gehört zur anglikanischen Diözese von Jerusalem und dem Mittleren Osten, einer Mitgliedskirche der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS). Die Gemeinderäume im unteren Stockwerk wurden völlig verwüstet; der Kirchenraum im Stockwerk darüber blieb wie durch ein Wunder unversehrt. Bewegt man sich etwas weiter südlich, gut zwei Kilometer vom Unglücksort entfernt, so stößt man auf Kirche und Pfarrhaus der National Evangelical Church of Beirut (NECB), einer weiteren EMS-Mitgliedskirche, in diesem Fall aus der reformierten Tradition. 

Am Abend hätte hier eine Hochzeit stattfinden sollen

Hier ist die Kirche verwüstet. Die schweren, hölzernen Türflügel hat es weit bis in den Innenraum geblasen, die kostbaren, farbigen Glasfenster wurden aus den Verankerungen gerissen und liegen zersplittert quer über den Bänken. Vor den Enden der Bankreihen liegen abgerissene Blumensträuße auf dem Boden. Eine Hochzeit hätte hier am Dienstagabend stattfinden sollen; die Hochzeitsgesellschaft war gerade dabei, den Sakralraum zu schmücken, als dieser von der Wucht der Detonation getroffen wurde. Der Pfarrer, Habib Badr, hatte nebenan im Pfarrhaus gerade die Arbeit an seiner Traupredigt beendet und sich in Richtung Kirche aufgemacht. Zum Glück. Denn kurz darauf krachte ein Teil der Deckenverkleidung auf seinen Schreibtisch. „Es ist unglaublich“, sagt Badr. „Einfach unglaublich.“ Seine nächsten Gottesdienste wird er bei den Anglikanern feiern.

Noch vier Kilometer entfernt sind die Spuren der Explosion unübersehbar. Hier, mitten im belebten Geschäftsviertel der Hamra, ­befindet sich die Near East School ofTheology (NEST), eine kleine theologische Hochschule, an der die evangelischen Kirchen des Libanon, ­Syriens, Jordaniens und Palästinas ihren Pfarrnachwuchs ausbilden. Auch die EMS entsendet jedes Jahr über das Programm „Studium im Mittleren Osten“ (SiMO) einige Studierende an diese Hochschule. Doch im Moment sind dort Sommerferien. Auch hier ist ein großer Teil der Fensterscheiben zersplittert, Türen wurden aus der Verankerung gerissen. Selbst Glaswände innerhalb des Gebäudes, wie etwa zwischen Treppenhaus und Sozialraum, wurden durch die Luft gewirbelt, ihre Aluminiumrahmen skurril verdreht. „Noch nie wurde die NEST so schwer getroffen“, schreibt Professor George Sabra, der Hochschul­präsident, „nicht einmal in den schlimmsten Tagen des 15-jährigen libanesischen Bürgerkrieges.“ 

Der Schock ist unübersehbar

In derselben Straße wie die NEST liegt auch das Gebäude der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde im Libanon. Der Pfarrer, der sich in diesem Moment zum Heimaturlaub in Deutschland befindet, hat ebenfalls von zahllosen zerborstenen Scheiben erfahren. Lediglich dort, wo die Fenster offenstanden, was in der schwülen Sommerhitze selten der Fall ist, sei das Glas von der Druckwelle verschont geblieben.

Etwa 135 Tote, 5000 Verletzte, 300 000 Obdachlose – so lauten die Schätzungen einen Tag nach der Katastrophe. Mag man es da als kleines Wunder bezeichnen, dass aus der evangelischen Gemeinschaft im Land offenbar zumindest an Leib und Leben kaum jemand zu Schaden gekommen ist? Von einem jungen Mann ist die Rede, der mit zahlreichen Glassplittern im Körper ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Ansonsten hört man zumindest vorerst nichts von Verwundeten. Und doch ist der Schock unübersehbar. Wie hält man es aus, wenn um einen herum die Welt zu Bruch geht?

In ­Mehrfachkrise gestürzt

Dieses Desaster hat Beirut zur denkbar schlechtesten Zeit erwischt. Schon lange ist der Libanon im Strudel einer nicht enden wollenden Mehrfachkrise gefangen. Da ist ­erstens die politische Krise: Seit dem 17. Oktober vorigen Jahre gehen die Menschen gegen eine als durch und durch korrupt empfundene politische Klasse auf die Straße, welche den Staat ausgeplündert habe. Einmal wurde die Regierung bereits ausgewechselt, doch ohne anschließend das Vertrauen der Menschen gewinnen zu können. Einen Tag vor der Explosion trat der Außenminister dieser neuen Regierung aus Frustration zurück. „Die einzige ehrliche Haut in dieser Gang“, erklärt ein Professor vor Ort. Zweitens ist da die Wirtschaftskrise: Seit Oktober ist es kaum noch möglich, Geld von Bankkonten abzuheben. Seit März kann die Regierung ihre Staatsanleihen nicht mehr zurückzahlen, das Land ist zahlungsunfähig. Die Stromversorgung ist zusammengebrochen. Die Hyperinflation hat binnen weniger Wochen den Wert aller Gehälter, aller Sparkonten, aller Pensionsrückstellungen, aller Lebensversicherungen um 85 Prozent schrumpfen lassen. Die Preise explodieren, die Arbeitslosigkeit ufert aus, und immer wieder ist von Familienvätern zu hören, die Selbstmord begehen – aus Scham, weil sie ihre Familien nicht mehr ernähren können. 

Krankenhäuser zerstört ­mitten in der zweiten ­Corona-Welle

Erst wenige Tage vor der Explosion musste eines der bedeutendsten Krankenhäuser vor Ort die Hälfte seines Personals entlassen, weil die Kosten nicht mehr aufgebracht werden konnten. Und dies mitten in der Corona-Pandemie! Denn das ist die dritte Krise: Der Libanon befindet sich nach anfangs sehr guten Erfolgen im Kampf gegen das Virus inzwischen mitten in einer zweiten Welle; jeden Tag werden neue Höchststände an Infektionen erreicht. Viele Covid-19-Patienten befanden sich auch in den Krankenhäusern, die jetzt durch die Detonation verwüstet wurden. Als vierte Krise ist die spannungsgeladene Situation an der ­israelisch-libanesischen Grenze zu nennen. Man mag zusätzlich zu diesen vieren noch weitere Krisen nennen: die Situation der syrischen Flüchtlinge im Libanon etwa, die ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Die Lage in den palästinensischen Flüchtlingslagern. Und so vieles mehr. Kurz: Es ist zu viel, als dass der Libanon auch noch diese Katastrophe schultern könnte.

Am Ende war es „nur“ ein aus mehr als grober Fahrlässigkeit verursachter Unfall, der die Katastrophe auslöste: Eine unvorstellbar große Menge hoch explosiven Ammoniumnitrats zur Herstellung von Düngemitteln, welches offenbar über viele Jahre hinweg trotz zahlreicher Beschwerden unsachgemäß in einer Halle am Hafen gelagert worden war, hatte sich entzündet. Und doch ist auch dies so bezeichnend für die Situation im Libanon. Bezeichnend für ein unachtsames, korruptes, dysfunktionales System. 

Den eigenen Interessen ­verpflichtet

In einer libanesischen Aufsichtsbehörde wie etwa dem Aufsichtsrat der nationalen libanesischen Elektrizitätsgesellschaft (deren Zentrale übrigens gleich mit in die Luft flog) – und wahrscheinlich ebenso in den entscheidenden Gremien der Hafenbehörde – sitzen nämlich normalerweise nicht unbedingt die kompetentesten Personen. Vielmehr sitzen da nach einem strengen konfessionellen Proporz ein maronitischer Katholik, ein Griechisch-Orthodoxer, ein Sunnit, ein Schiit und ein Druse. Ganz genau so, wie der libanesische Staatspräsident immer ein Maronit sein muss, der Ministerpräsident ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiit, und der Armeechef wiederum ein Christ. Und alle diese Vertreter fühlen sich in der Regel mehr der Loyalität ihrer eigenen Gruppe verpflichtet, als dem Gemeinwohl aller Staatsbürgerinnen und –Bürger. ­Dieses System, welches einst dazu gedacht war, ein friedliches Gleichgewicht und eine Partizipation aller gesellschaftlich-religiösen Gruppen zu garantieren, trug entscheidend zu Vetternwirtschaft und Korruption bei.

Aber es wäre wohl zu simpel, wollte man allein einen „orientalischen Tribalismus“ für das Scheitern des Libanon verantwortlich machen. Wirksam werden konnten diese Mechanismen nämlich nur in Kombination mit einer vom Westen ausdrücklich geförderten Dynamik: Der Libanon wurde nach dem Bürgerkrieg (1975-1990) im Zeichen eines wirtschaftlichen Ultra-Liberalismus wieder aufgebaut. Der Staat wurde nicht als Gemeingut aller Bürgerinnen und Bürger geführt, sondern wie ein Wirtschaftsbetrieb, der in dem Maße funktioniert, wie es den Angehörigen des Managements gelingt, ihr Kapital zu vermehren. 

Spendenkonten:

Gustav-Adolf-Werk der EKBOIBAN: DE80 5206 0410 0003 9013 60BIC: GENODEF1EK1(Evangelische Bank)Kennwort: Nothilfe Beirut

Evangelische Mission in Solidarität e.V.IBAN: DE85 5206 0410 0000 0001 24 BIC: GENODEF1EK1 (Evangelische Bank)Verwendungszweck „Libanon“ – für die evangelische Gemeinde vor Ort,oder: Verwendungszweck„NEST Coronahilfe“ für die kleine ­theologische Hochschule