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Wunden der Straße – Wie KI Wohnungslosen beim Heilen helfen kann

Diese Geschichte handelt von einem Filmkomponisten, der Wunden versorgt, von einem jungen Start-Up – und von Menschen, die auf der Straße leben und künftig auch von KI profitieren sollen.

8 Uhr früh, vor der Karlstraße 34 in München hat sich eine lange Schlange gebildet: Menschen aus aller Herren Länder, die ihre wenigen Habseligkeiten in Plastiktüten oder nur am Leib tragen. Sie wollen in die Kleiderkammer der Abtei Sankt Bonifaz. Etwas Warmes essen, endlich mal duschen – oder ihre Wunden in der Arztpraxis anschauen lassen, von Oliver Gunia.

Gunia, 57, komponierte in seinem früheren Leben Filmmusik. Mit seinem Vater, einem Rockmusiker, schrieb er Titel für 700 Folgen der ARD-Serie “In aller Freundschaft”, den erfolgreichsten Ärzte-Dauerbrenner des deutschen Fernsehens. Seit 2016 säubert der gelernte Krankenpfleger jedoch offene Beine, inspiziert eitrige Abszesse, versorgt Wanzenbisse und chronische Geschwüre.

In aller Freundschaft ist Gunia schon lange auch dem Kloster verbunden. Zwischen Desinfektionsmitteln, einem Tee und einem Obstteller verrät er, dass er sogar mit einem Ordenseintritt geliebäugelt hatte. Bruder Emmanuel Rotter, Geschäftsführer der Obdachlosenhilfe des Klosters, brachte ihn davon ab – rief ihn aber Jahrzehnte später zu sich, als in der Ambulanz Not am Mann war. Gunia ist als Wundspezialist inzwischen bundesweit gefragt, hält Fortbildungen, schreibt Bücher.

“Versorgen, wo andere wegsehen”, heißt sein neuer Titel, der bald erscheint. Hinsehen ist für ihn entscheidend. Einmal hatte er einen Patienten mit einer mysteriösen Verletzung unter der Ferse. Trotz aller Pflege wollte sie sich nicht schließen. Die Ursache steckte in der Schuhsohle: ein Glassplitter.

Dass sich der Mann damit immer wieder selbst piesackte, merkte er nicht; er fühlte keinen Schmerz mehr. Nicht untypisch für bestimmte Krankheitsbilder. Manche spüren einen ganzen Körperteil nicht mehr, etwa einen Fuß.

Ums noch genauere Hinsehen geht es an diesem trüben Herbstmorgen. Bei Gunia ist ein junger Medizintechnik-Ingenieur zu Besuch: Johannes Ruopp (27) hat an der Hochschule München studiert, nur wenige hundert Meter die Straße hinauf – und eine Woche nach Abgabe der Abschlussarbeit mit Studienfreunden ein inzwischen mehrfach preisgekröntes Start-Up gegründet: Curevision.

Auf der Behandlungsliege nimmt ein schmächtiger Mann Platz, Mitte Fünfzig, nennen wir ihn Max. An beiden Unterschenkeln klaffen außen mehr als faustgroße, offene Stellen. Eigentlich sind es Krater. Rechts scheint der blanke Knochen durch. Max erzählt dazu eine unappetitliche Geschichte aus Griechenland, bei der auch Stacheldraht im Spiel gewesen sei.

Seit über einem Jahr kommt er in die Ambulanz. Die Wunden sind schon um einiges kleiner geworden, berichtet der Pfleger. Für weitere Fortschritte könnte nun ein Gerät sorgen, das Curevision 2022 auf den Markt gebracht und seither weiterentwickelt. Es ist eine Art Tablet.

“Wir nennen es einfach die Kamera”, sagt der Pfleger. Sein Gast macht eine Aufnahme von dem offenen Bein aus der Nähe, das Gerät sendet einen lila Lichtschimmer aus. Verschiedene Sensoren und Objektive erzeugen mit Unterstützung von Künstlicher Intelligenz (KI) nicht nur ein buntes Bild. Ein Klick – und die Wunde ist präzise in Höhe, Breite und Tiefe vermessen, wofür bisher Papierlineal und Stift dienten. Seit diesem Sommer kann “die Kamera” noch mehr: Sie macht Bakterienstämme sichtbar. Denn die reagieren, wenn ein bestimmtes Licht auf sie trifft – ähnlich wie Reflektoren beim Fahrrad.

Laut Ruopp funktioniert das für bis zu 98 Prozent der Keime, die in Wunden mitunter Ärger machen. Bei Max etwa hat sich “Pseudomonas aeruginosa” eingenistet. Das Bakterium bildet einen tückischen Biofilm und schützt sich damit vor der Immunabwehr. Kommt die Körperpolizei, bekämpft sie nicht den Erreger, sondern zerstört gesundes Gewebe. Die Wunde wächst. Ein perfides Ablenkungsmanöver.

Auf dem Monitor der Kamera scheinen die befallenen Regionen grün. Man sieht, wo der Keim sich in Hautpartien versteckt, die vom Rand der Wunde schon etwas entfernter sind und sonst gar nicht beachtet würden. Gunia nimmt mit einem Schaber einige Schuppen ab. Eine erneute Aufnahme zeigt sofort, ob er alles erwischt hat.

Ein weiterer Vorteil: Nun kann er Patienten viel leichter vermitteln, wie eine Behandlung anschlägt – indem er ihnen die Fotos vorher und nachher zeigt. Das schafft Vertrauen bei einer eher scheuen Klientel, die auf der Straße und bei anderen Ärzten schon einiges erlebt hat.

Ob sich die Beine von Max wieder völlig schließen werden? Gunia ist skeptisch. Aber er sagt auch: “Wir haben in unserer Ambulanz schon so manches Wunder erlebt.”

Am Vortag hat es in der Abtei einen größeren Auftrieb gegeben. Fein gekleidete Leute einer Münchner Familienstiftung waren da, auch die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Schirmherrin. Stiftungsgründer ist ihr Parteifreund, der Unternehmer Alexander Fuchs. Das Motto der Stiftung lautet: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.”

Familie Fuchs hat der Obdachlosenhilfe von Sankt Bonifaz und der Straßenambulanz des Katholischen Männerfürsorgevereins jeweils ein Curevision-System spendiert. Deren Leiter Thomas Beutner sagt ernst: Letztlich gehe es in seiner Arbeit darum, Amputationen zu vermeiden. Rund 14.000 Menschen in München haben keine eigene Wohnung. Beutner verarztet nach eigener Schätzung etwa 90 Wunden jede Woche. Tendenz steigend.

Das Tool von Curevision soll die Zusammenarbeit von Ärzten und Pflegern in der Stadt befördern. Die digitale Dokumentation wird das enorm vereinfachen, weil bei einem Patientenkontakt nicht jedes Mal von vorn begonnen werden muss.

Beutner dreht aber noch ein größeres Rad. Er träumt von Studien. Sie sollen in einigen Jahren den Nachweis erbringen, dass solch eine standardisierte, konzertierte Wundbehandlung funktioniert – das wäre dann auch für andere Kommunen interessant. Der Arzt sieht es pragmatisch: “Wenn der Schmerz weggeht, der Patient wieder trockene Füße hat, das nicht ständig durchsuppt und keinen üblen Geruch mehr verbreitet, haben doch alle etwas davon.”