Artikel teilen:

Wissenschaftler erforschen die Bibliothek im Kopf

Rund 40.000 Wörter hat jeder Erwachsene in seinem Gehirn abgespeichert. Forscher wollen erkennen, nach welchen Mustern sie geordnet sind. Das könnte beispielsweise dabei helfen, eine andere Sprache zu lernen.

Das Gehirn – eine Festplatte? Ein Informationsspeicher? Oder vielleicht doch eine Bibliothek im Kopf? Wissenschaftler greifen gern zu solchen Bildern, wenn sie dem menschlichen Denkorgan beim Arbeiten zusehen.

Forscher aus aller Welt wollen derzeit herausfinden, wie das Gehirn Worte speichert und abruft. Jeder Bundesbürger kann helfen – durch Beteiligung an einem fünf Minuten dauernden Spiel, das im Internet unter https://smallworldofwords.org/de aufgerufen werden kann.

Die Sprach- und Gedächtnisforscher – darunter Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin – beschreiben das Gehirn als “mentales Lexikon”, in dem der Wortschatz eines Menschen abgespeichert ist. “Ein durchschnittlicher Erwachsener kennt rund 40.000 Wörter, die in seinem mentalen Lexikon gespeichert sind”, betonen sie. “Dieses Lexikon ermöglicht es uns, schnell und effektiv zu kommunizieren, da wir alle eine ähnliche Vorstellung von den Bedeutungen und Verwendungen dieser Wörter haben.”

Offenbar bilden die Wörter – jenseits ihrer neutralen Bedeutung – in der grauen Hirnmasse Netzwerke, die mit persönlichen Erfahrungen und Assoziationen verknüpft sind. Beispielsweise das Wort “Wiese”: Vielen Menschen fallen dabei spontan Begriffe wie Blumen, Frühling oder Spaziergang ein. Wer aber unter Heuschnupfen leidet oder Angst vor Zecken hat, hat unwillkürlich ganz andere Assoziationen wie Niesen, tränende Augen oder mögliche Krankheiten. Ein Gartenbesitzer denkt vielleicht daran, dass er dringend den Rasen mähen muss.

“Freie Assoziationen werden in der Psychologie und in der Sprachforschung eingesetzt, um zu verstehen, wie Gedanken und Sprache organisiert sind”, sagt der Kognitionswissenschaftler Samuel Aeschbach. Es bestehe die Vorstellung, dass Wörter im Gedächtnis nicht isoliert, sondern in einem Netzwerk abgelegt seien. “Wenn eine Person ein Wort hört oder liest, werden damit verbundene Wörter oder Konzepte im Gedächtnis leicht verfügbar”, erläutert der Doktorand des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.

Wer sich am Forschungsprojekt beteiligen will, muss lediglich fünf Minuten investieren. Es geht darum, zu 18 Begriffen die ersten drei Assoziationen aufzuschreiben, die einem spontan einfallen. Beispielsweise: Hecht? Karpfenteich – Fisch – Angler. Oder beten? Kerzen – Rosenkranz – Dürers Hände. Ein spontaner Selbsttest des Autors zeigt, dass mehr als 20 der 54 von ihm genannten Begriffe von den bisherigen Teilnehmern sehr häufig gewählt wurden. Komplett einzigartig war keine einzige Assoziation. Seit dem Start des Projekts vor mehr als zehn Jahren ist die Datenbank von über 24.000 Menschen gefüllt worden.

Durch die Analyse dieser Assoziationen wollen die Forschenden herausfinden, wie nah oder fern diese Wörter im Gedächtnis abgespeichert sind und wie das mentale Lexikon strukturiert ist. “Wir möchten Daten von möglichst vielen verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Regionen sammeln, um auch die Vielfalt der Wortbedeutungen abzubilden”, so Aeschbach.

Das Assoziationsspiel ist Teil des internationalen Projektes “Small World of Words”, das von der Katholischen Universität Leuven geleitet wird. Das Projekt läuft mittlerweile in 19 Sprachen, darunter Niederländisch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Kantonesisch, Vietnamesisch, Japanisch und Türkisch. Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, der Universität Basel, der Universität Tartu, der Universität Tübingen und der Universität Melbourne setzen das Projekt im deutschsprachigen Raum um.

Die Wissenschaftler versichern, dass die Studie vielseitige Anwendungsmöglichkeiten bietet – von der Erforschung regionaler Unterschiede im Sprachgebrauch, der Verbesserung von künstlicher Intelligenz bis hin zu individualisierten Lernhilfen für das Erlernen einer neuen Sprache.