Die Telefone im Präsesbüro laufen heiß am Tag des Interviews mit Präses Annette Kurschus: Lockdown in Gütersloh und Warendorf – was bedeutet das für die Kirchen?, wollen die Anruferinnen und Anrufer von der leitenden Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen wissen. Die Corona-Krise stellt auch die Leitungsverantwortlichen in den Kirchen vor bisher ungeahnte Herausforderungen. Im Gespräch mit Anke von Legat erzählt Annette Kurschus von persönlichen Erfahrungen in dieser Zeit und von theologischen Gedanken zur Situation.
• Wie haben Sie persönlich die Zeit im Lockdown erlebt?
Die Zeit hat irritiert und verunsichert. Anfangs war viel die Rede von Entschleunigung – davon habe ich allerdings wenig gespürt. Im Gegenteil: An die Stelle der ausfallenden Termine trat eine enorme Geschäftigkeit. Verrückt, wieviel Zeit und Energie es kostet, das zu organisieren, was nicht stattfindet. Gleichzeitig versiegten beinahe komplett sämtliche Quellen der Freude: Feste, Gottesdienste, Begegnungen, Treffen mit Freunden, gemeinsames Singen und Musizieren. Das zehrt und macht müde. Zugleich war in dieser Situation viel tröstlicher Zusammenhalt spürbar. Die allermeisten – auch gänzlich Ungeübte – haben sich auf digitale Formen der Kommunikation eingelassen. Plötzlich ging ganz leicht, was wir zuvor kaum für möglich gehalten hätten. Dadurch entstand eine Art von „Nähe“, die hilfreich und wichtig war – und doch nicht mit physischer Nähe zu vergleichen.
• Gilt das auch für die Gottesdienste?
Mit Respekt habe ich wahrgenommen, wie ideenreich viele Pfarrerinnen und Pfarrer gemeinsam mit Musikerinnen und Ehrenamtlichen digitale Wege des Feierns und der Verkündigung beschritten. Dabei fand ich diejenigen Formen am überzeugendsten, die nicht einfach ihre „normalen“ Gottesdienste mit „abgespeckter“ Liturgie ins Internet verlegten, sondern gezielt die vielfältigen eigenen Möglichkeiten der digitalen Übertragung nutzten. Da gab es in manchen westfälischen Gemeinden bemerkenswerte Beispiele, die mich zum Teil gerührt und begeistert haben.
• Sie selbst haben in dieser Zeit Fernsehgottesdienste gehalten – wie war es, vor leeren Reihen zu feiern?
Den Fernsehgottesdiensten hat es für mein Empfinden gut getan, tatsächlich nichts anderes sein zu wollen und zu müssen als Gottesdienste für eine Gemeinde am Bildschirm. So war für die Kameraleute und die liturgischen Akteure eine Konzentration möglich, die sich auf das gesamte Format positiv auswirkte.
• Inzwischen werden in unseren Kirchen wieder Gottesdienste gefeiert – haben Sie selbst schon einen besucht?
Ja, sicher. Mein – ganz und gar subjektives! – Erleben war jeweils befremdlich. Mit viel Abstand zu den anderen in der Bank sitzen, scheu danach schielend, wie die anderen mit ihrem Mundschutz umgehen. Nicht mitsingen dürfen, wenn die Orgel vertraute Choräle intoniert. Am Ende seltsam verlegen und vereinzelt die Kirche verlassen, ohne beieinander stehen zu bleiben und sich zu unterhalten – womöglich beim Kirchkaffee. Mich persönlich befremdet und deprimiert eine solche Veranstaltung mehr, als dass sie mich ermutigen oder stärken könnte. Und ich weiß nicht recht, ob es wirklich das ist, wonach sich diejenigen sehnen, die sehr früh und sehr vorwurfsvoll darauf gedrungen haben, auf jeden Fall Gottesdienst zu feiern – Corona zum Trotz.
Es ist ein echtes Dilemma: Das, worin Kirche besonders stark ist und gebraucht wird – Nähe, Gemeinschaft, Beziehung und Kontakt –, ist zur Zeit riskant. Wir sind an unseren empfindlichsten Punkten getroffen und ausgerechnet in unseren größten Stärken geschwächt. Das ist schwer auszuhalten.
• Den Kirchen wurde ja vorgeworfen, zu willfährig auf ihre Rechte zu verzichten…
Hier ging es aus meiner Sicht nirgends um Rechte. Niemand hat uns etwas verboten, wir waren zu keiner Zeit in unserer Religionsfreiheit eingeschränkt. Dass wir uns für einige Zeit nicht zu Gottesdiensten versammelt haben, Seelsorge nur vorsichtig wahrnehmen konnten und auf andere Gemeinschaftserlebnisse verzichtet haben, war ein schlichtes Gebot der Vernunft.
• Also lieber schweigen?
Ich frage mich, was genau mit dem „Schweigen der Kirche“, das uns immer wieder vorgeworfen wurde, gemeint ist? Selten wurde in den Medien so viel über Kirche berichtet wie in den vergangenen drei Monaten; Kirche kam intensiver als sonst in der Öffentlichkeit vor, wir waren digital so präsent wie nie. Ob mit dem „Schweigen“ gemeint ist: Kirche bleibt eine Deutung der Situation schuldig? Ja, die Menschen erwarten – zu Recht – von uns Theologinnen und Theologen eine Auskunft darüber, was Gott mit der ganzen Situation zu tun hat. Wo ist er? Was will er von uns? Wie erfahren wir ihn jetzt?
Wir sind – aus gutem Grund! – vorsichtig mit allzu schnellen und glatten Antworten. Im biblischen Buch Exodus wird erzählt, wie Mose – als er vor der Aufgabe steht, sein Volk aus der Knechtschaft in die Freiheit zu führen – den sehnlichen Wunsch hat, „Gottes Herrlichkeit zu sehen“. Er erhält die Auskunft: Niemand, der lebt, kann Gott sehen. Stattdessen stellt Gott den Mose in eine Felskluft und geht an ihm vorüber. Mose darf ihm buchstäblich „hinterhersehen“.
Manchmal denke ich, wir stehen gerade in einer solchen Felskluft. Gott verlässt uns nicht, dessen bin ich gewiss. Aber: Wir können ihn nicht be-greifen. Schon gar nicht sein Tun oder sein Nicht-Handeln erklären. Ich will im festen Vertrauen auf seine Nähe leben und handeln. Bis wir ihm irgendwann nach-sehen … Diese Aussicht stärkt und ermutigt mich. Auch und gerade jetzt.
• Was sagen Sie zu der Kritik der ehemaligen thüringischen Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, die Kirchen hätten die Menschen allein gelassen?
In dieser pauschalen Formulierung trifft das nicht zu. Unsere Seelsorgerinnen und Seelsorger haben getan, was sie konnten, um Einsame und Sterbende zu begleiten. Da war – im Verborgenen – einiges möglich. Und: Wir waren zu Recht vorsichtig. Schließlich ging es oft nicht um die potenzielle Gefährdung Einzelner, sondern um das Risiko, das Virus in eine ganze Einrichtung zu bringen. Zwischen Gott vertrauen und Gott versuchen ist der Grat bisweilen ungeheuer schmal!
Im Nachhinein denke ich selbstkritisch: Vielleicht hätte ich mich intensiver und einfallsreicher dafür einsetzen müssen, Alten und Kranken und Sterbenden Kontakte zu ihren nächsten Angehörigen zu ermöglichen.
• Und was ist mit der Klage darüber, dass Politiker die Kirchen nicht als systemrelevant eingeschätzt haben?
Systemrelevanz ist nichts, wonach wir kirchlicherseits streben sollten. Wir sind nicht diejenigen, die den Laden am Laufen halten. Im Gegenteil: Wir müssen um unseres Auftrags willen hier und da Sand ins Getriebe streuen, sperrig und unbequem sein und dafür eintreten, dass sich etwas verändert. Corona hat uns hautnah darauf gestoßen, dass unser Lebensstil in hoch gefährliche Sackgassen führt. Es kann und darf „nach der Krise“ – wann immer das sein wird – nicht einfach alles so weitergehen wie bisher. Um Gottes und der Menschen willen. Mit dem Raubbau an der Erde zum Beispiel. Mit unserem Konsumverhalten. In der Pflege. Im Arbeitsrecht – um nur einige Punkte zu nennen.
• Noch ein ganz praktischer Punkt: Die Kirchensteuern werden erheblich zurückgehen. Wie kann die Kirche damit umgehen?
Wir befinden uns seit Langem in einem konsequenten Konzentrationsprozess. Dass die finanziellen Mittel durch Corona noch weitaus drastischer einbrechen als erwartet, beschleunigt also eine Dynamik, in der wir ohnehin unterwegs sind. Sparmaßnahmen müssen noch zügiger umgesetzt, Debatten um inhaltliche Prioritäten noch dringender geführt werden. Das wird hart und unerfreulich, an manchen Stellen schmerzlich. Die Erfahrung aus den letzten drei Monaten macht mir allerdings Mut. Wir haben Übung darin gewonnen, uns auf Unerwartetes einzustellen und erfindungsreich zu sein. Wenn das eine nicht geht, dann geht etwas anderes, und manches wird sogar durch Mangel beflügelt. Ich vertraue darauf, dass der Geist Gottes uns leiten wird bei der Frage, welche Gestalt unsere Kirche gewinnt in allem, was sich verändern muss und verändern wird.