Ein kleines Fenster in einem Treppenaufgang der Ulmer Martin-Luther-Kirche ermöglicht einen authentischen Zugang zur NS-Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Denn der Blick fällt in die Kammer hinter der Orgel, in der Freunde und Unterstützer der Widerstandsgruppe um die Geschwister Scholl Anfang des Jahres 1943 rund 2.000 Exemplare des fünften Flugblatts der „Weißen Rose“ versandfertig gemacht hatten. Aus einer kleinen Ausstellung rund um die historische Orgelkammer soll nach den Vorstellungen des „Fördervereins Lernort Weiße Rose“ eine Gedenkstätte direkt neben der Kirche werden – mit völlig neuer Konzeption.
Alle Ulmer Rathausfraktionen haben sich vor einigen Tagen in einem gemeinsamen Antrag für eine zügige Realisierung des „Lernorts“ ausgesprochen. Auch die Evangelische Kirche unterstützt das Projekt, für das der Deutsche Bundestag bereits einen Zuschuss in Höhe von 1,5 Millionen Euro genehmigt hat, wie Dekan Torsten Krannich bestätigt.
Dem Fördervereinsvorsitzenden Martin Rivoir schwebt ein architektonisch auffallender Neubau vor, der zu einem Anziehungspunkt auch für Touristen werden soll, die bisher hauptsächlich wegen des Münsters mit seinem weltweit höchsten Kirchturm nach Ulm kommen. Ein Vorbild könne der markante „Berblinger Turm“ am Donau-Ufer sein, der an die Flugversuche des legendären „Schneiders von Ulm“ erinnert.
Für die Konzeption des geplanten „Lernorts“ läuft ein Wettbewerb an, wie der SPD-Landtagsabgeordnete und Ulmer Gemeinderat Rivoir dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte. Ein Ziel dabei sei, die historischen Zeugnisse in attraktiver Weise zu präsentieren. Deshalb wird auch der kleine weiße Tisch, auf dem Hans Hirzel und Franz Müller aus dem Freundeskreis von Sophie Scholl die vielen Flugblätter eingetütet und die Briefumschläge beschriftet hatten, in den „Lernort“ integriert.
Die jungen Widerstandskämpfer gingen bei ihrer gefährlichen Aktion äußerst umsichtig vor: Die von Sophie Scholl aus München angelieferten Flugblätter bearbeiteten sie in der verborgenen Orgelkammer, zu der es nur einen einzigen Zugang gab. Hans Hirzel, der Sohn des Gemeindepfarrers, war Hilfsorganist der Kirche und hatte einen Schlüssel zur Orgelempore. Um keinen Verdacht zu erregen, übte er immer wieder auf der Orgel.
Die Briefe mit den Flugblättern wollte Hans Hirzel nicht in Ulm verteilen, dem Wohnort der Familie Scholl, und steckte sie deshalb in Stuttgart zusammen mit seiner Schwester Susanne, Studentin an der Stuttgarter Musikhochschule, in konspirativen Aktionen in Briefkästen. Adressiert waren die Briefe hauptsächlich an Multiplikatoren wie Gastwirte oder Ärzte. Dabei waren sich die Geschwister der großen Gefahr ihrer nächtlichen Unternehmungen sehr bewusst. „Wir sind alle tot“, war die erste Reaktion von Susanne Hirzel nach der Lektüre des Flugblatts.
Neben dieser historischen Dimension soll der Lernort didaktisch und mit modernen Medien grundlegende Informationen über Widerstand und NS-Zeit vermitteln und schließlich auch deutlich machen, welche bis heute aktuellen Vorstellungen die „Weiße Rose“ hatte. Dafür eignet sich, so der Förderverein, vor allem das in der Martin-Luther-Kirche auf den Weg gebrachte fünfte Flugblatt, in dem sich die „Weiße Rose“ geradezu visionär für die Freiheitsrechte, Schutz des einzelnen Bürgers vor der „Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten“ und ein gemeinsames, föderales Europa ausspricht.
Der Lernort wird entwickelt in enger Abstimmung mit dem zentralen Gedenkort der „Weiße Rose Stiftung“ an historischer Stelle unter dem Lichthof der Universität München, in dem Hans und Sophie Scholl bei einer Flugblattaktion gestellt und der Gestapo übergeben wurden. Auch der Stiftungs-Vorsitzenden Hildegard Kronawitter liegt sehr am Herzen, dass die neue Gedenkstätte nicht in erster Linie ein Museum wird, sondern eine „Lernarena“, in der auch die Konsequenz eines „wertebasierten Widerstands“ für die heutige Zeit herausgearbeitet wird.
Außerdem könne, wie Kronawitter auf epd-Anfrage sagte, die neue Ulmer Gedenkstätte das „abscheuliche Prinzip“ der von den Nazis angewandten Sippenhaft veranschaulichen: Die gesamte Familie Scholl war mehrere Monate im Ulmer Untersuchungsgefängnis inhaftiert, Vater Robert blieb sogar 18 Monate lang in Haft. Im Gegensatz zu den Geschwistern Scholl kamen die jungen Ulmer Widerständler mit dem Leben davon, wurden jedoch von Roland Freisler, dem gnadenlosen Präsidenten des Volksgerichtshofs, zu Freiheitsstrafen verurteilt. (3308/05.11.2024)