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„Wir lassen niemanden allein – tatsächlich?“

Ein Hinterbliebener des Anschlags vor 5 Jahren über die Schwierigkeit, Hilfe zu bekommen

Von Henning Harms

Vor fünf Jahren am 19. Dezember wurden die Eltern meiner jetzigen Schwiegertochter, der 22-jährigen Studentin Valeriya, am Breitscheidplatz ermordet. Wir haben diese letzten fünf Jahre durchlebt, begleitet, gemeinsam geweint, den Kopf geschüttelt, waren enttäuscht, ­wütend und fühlten uns häufig unverstanden und nicht als Betroffene und Traumatisierte wahrgenommen.

Wir begannen einen Marathonlauf durch den Behördendschungel, ohne Wegweiser, ohne Training, ohne Ende. Wir führten in den ersten drei Monaten nach dem Anschlag hunderte Telefonate, schrieben an oder erhielten von Behörden oder Ministerien etwa 550 E-Mails, schrieben Briefe, hatten unüberschaubar viele Behördengänge und Treffen mit Rechtsanwälten und Notaren, wir füllten circa 120 Seiten Fragebögen aus, ließen viele Dokumente beglaubigt übersetzen. Erst nach wochenlanger Wartezeit kam ein Termin in der Trauma-Ambulanz durch persönliche Kontakte, nicht etwa offizielle Hilfe, zustande.

Wir, die Betroffenen und Hinterbliebenen, haben uns zusammengeschlossen und stehen in engem Kontakt miteinander. Erst dies hat durch gemeinsame offene Briefe, massive gemeinsame Interventionen bei Ministerien und Behörden zu einer Wahrnehmung unserer Situation geführt. Trotzdem müssen sich viele der Hinterbliebenen noch immer regelmäßigen Begutachtungen ihrer psychischen Situation, als Voraussetzung zum Bezug etwa einer Rente, unterziehen. Die Kosten für Physiotherapie von Verletzten wird erst nach anwaltlicher Intervention übernommen. Ein Verletzter entwickelt eine Depression während er erfolglos um einen für ihn angepassten Rollstuhl kämpft. Auch hier helfen erst die Beziehungen in der Gruppe und der Gang an die Öffentlichkeit. Erst nach einem Fernsehbeitrag über den jungen Mann können die Kosten eines passenden Rollstuhls durch Spenden aufgebracht werden. In regelmäßigen Abständen muss unsere Schwiegertochter ihre finanziellen Verhältnisse darlegen. Verdient sie etwas Geld, wird dies sofort von der Rente abgezogen. Erst nach Veröffentlichung unserer offenen Briefe wurden wir ins­ Kanzleramt eingeladen, und hatten unter anderem Gelegenheit zur Stellungnahme zur Novellierung des Opferentschädigungsgesetzes.

Die Aussagen der Zeugen in den Untersuchungsausschüssen in Landtagen und im Bundestag waren für diejenigen von uns, die daran teilnahmen, immer wieder Quellen des schieren Entsetzens ob der retrograden Amnesie der wichtigsten Zeugen. Ein kollektives Vergessen scheint um sich gegriffen zu haben. Auch ein Opferbeauftragter sowohl auf Bundesebene wie auch auf Landesebene wurde nach unserer deutlichen Forderung danach inzwischen installiert. Die proaktive Kontaktaufnahme mit Betroffenen ist unabdingbar, vielfach gefordert, leider aber häufig immer noch ungenutzt. Einladungen in den Bundestag, zur Gedenkfeier sind keine Hilfe, das tägliche Leben zu bestreiten.

Der erste Opferbeauftragte, Kurt Beck, hat uns tatsächlich im Sommer 2017 zu Hause besucht und geholfen. Anderseits warten wir noch auf eine Nachfrage vom aktuellen Opferbeauftragten, der bisher nur zu Treffen im Bundestag eingeladen hat, wie sich das Leben und Studium bei unserer Schwiegertochter gestaltet, nachdem mit ihrem 27. Geburtstag vor acht Monaten sämtliche Renten ausliefen. Wir, die Gruppe der Hinterbliebenen und Betroffenen, lassen niemanden allein.

Wir wünschen uns, nach fünf verstrichenen Jahren, dass dies auch auf staatlicher Ebene ebenso mit Empathie und Pragmatismus umgesetzt würde. Gerade die Stillen, die Depressiven benötigen eine ausgestreckte Hand von allen Institutionen. Vermeidbare Belastungen entstehen, wenn Menschen gezwungen werden, sich durch einen Sumpf von Paragrafen zu kämpfen und gleichzeitig Sorgen um ihren Lebensunterhalt haben müssen.

Es gibt noch viel zu tun, bis wir sagen können „niemand wird allein gelassen“.