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“Wir hätten keine Berechtigung mehr, Kirche zu sein”

Aufklärung von sexuellem Missbrauch und Prävention gegen sexualisierte Gewalt sind gleichermaßen wichtig. Davon ist die Leiterin der evangelischen Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt, Martina Frohmader, überzeugt. Am Rande eines Podiumsgesprächs mit dem Titel „Und Gott schaut weg?“ am Donnerstagabend sprach sie mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) über das Thema. Nicht einmal ein Dutzend Zuhörerinnen und Zuhörer hatten die Gesprächsrunde besucht.

epd: Die evangelischen Kirchengemeinden in Bayern sind nach dem kirchlichen Präventionsgesetz verpflichtet, Risikoanalysen zu erarbeiten und Schutzkonzepte gegen sexuellen Missbrauch zu entwickeln. Gibt es da nun eine Dynamik, dies zu tun? Die kaum besuchte Veranstaltung am Donnerstagabend in der Nürnberger Stadtakademie zu dem Thema sexueller Missbrauch spiegelt das ja nicht wider?

Frohmader: Das kirchliche Präventionsgesetz ist ein großer Pluspunkt. Aber, die Situation ist vielschichtig: Die einen sind mit vollem Engagement dabei und wollen mit viel Motivation etwas ändern. Bei anderen bedarf es noch der Überzeugungsarbeit.

epd: Die Betroffenen von sexuellem Missbrauch kommen oft aus Gemeinden. Wie kann man sie denn in die Aufarbeitung einbeziehen? Sollten Betroffene sich melden oder dürfen sie in den Gemeinden anonym bleiben?

Frohmader: Es hat in der vergangenen Woche ein Forum für Betroffene stattgefunden, zu dem es einen offenen Aufruf gab. In relativ kurzer Zeit haben sich 18 Menschen gemeldet, die daran teilnehmen wollten – auch Menschen, die wir in der Fachstelle gar nicht gekannt haben. Da ist ein Potenzial von Menschen, die sich einbringen wollen. Sie sind für uns wichtig, denn sie qualifizieren uns, denn sie sind die Expertinnen und Experten in ihrer eigenen Person und für das, was ihnen widerfahren ist. Es ist für uns ein Geschenk, wenn sie sich trotzdem auf diese Kirche noch einlassen und sich zur Verfügung stellen und wir gemeinsam an dem Thema arbeiten können. Worauf sie aber sehr genau achten, ist die Frage: Werden sie benutzt oder dürfen sie auch wirklich mitwirken? Und wenn sie das Gefühl haben, sie werden benutzt, dann gibt es Ärger – und zwar völlig zu Recht.

epd: Wie umgehen mit Menschen in den Kirchengemeinden, die Täter geschützt haben, deshalb zu Mittätern geworden sind? Vielleicht schämen sie sich sogar heute für ein Schweigen oder Wegschauen.

Frohmader: Wenn Aufarbeitung in der Kirchengemeinde stattfindet, wird es zu Verletzungen kommen. Wenn etwa der Pfarrer der Täter war, der gleichzeitig mit ganz vielen Biografien verbunden ist. Er hat Paare getraut, Kinder getauft oder die Eltern beerdigt. Das macht dann was mit den Gemeindemitgliedern. Aber wir sind es den Betroffenen wirklich schuldig, dass wir trotzdem in diese Prozesse hineingehen. Sonst werden wir unglaubwürdig, würden uns als Kirche infrage stellen und hätten keine Berechtigung mehr, Kirche zu sein. (00/1817/14.06.2024)