Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg, doch noch Jahre und Jahrzehnte später suchten Menschen verzweifelt nach ihren Angehörigen. Der ökumenische „Kirchliche Suchdienst“ (KSD) mit Sitz in München half ihnen dabei. Ende September stellt er nach 70 Jahren seine Tätigkeit ein. Im Interview mit Angelika Prauß zieht dessen kommissarischer Geschäftsführer Paul Hansel Bilanz der Arbeit.
• Herr Hansel, am 30. August jährt sich der 70. Jahrestag der Gründung, nur einen Monat später stellt der KSD seine Tätigkeit ganz ein. Warum?
Der KSD wurde ursprünglich gegründet, um durch Krieg, Flucht und Vertreibung getrennte Familien wieder zusammenzuführen. Diese klassische Suchdienstaufgabe ist heute im Kern erledigt, die Anfragen sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Hatten wir vor zehn Jahren etwa rund 20 000 Anfragen pro Jahr, so sind es heute zwischen 6000 und 8000. Meist geht es um die Klärung von Familienstrukturen, etwa wo und wann die Großmutter geboren ist, kaum noch um die Suche nach vermissten Personen. Deshalb beschlossen Caritas, Diakonie und das Bundesinnenministerium, das uns finanziert, die Tätigkeit des KSD zum 30. September einzustellen.
• Wie kam es dazu, dass sich die Kirche bei der Suche beteiligte?
Im Januar 1945 begannen die großen Fluchtbewegungen aus den deut-schen Ostgebieten wie Ostpreußen und Schlesien. Auf der Flucht wurden Familien auseinandergerissen, Kinder von ihren Müttern getrennt. In ihrer Not wandten sich viele Menschen an kirchliche Institutionen. Die staatlichen Stellen waren bei Kriegsende praktisch zusammengebrochen. Die katholischen und evangelischen Einrichtungen waren stabile, zuverlässige Anker, an die sich die Menschen wandten. In Pfarrämtern wie im bayerischen Waldsassen begann die Aufzeichnung der einzelnen Schicksale auf Karteikarten, so dass man später Menschen durch den Abgleich mit den Heimatortkarteien zusammenführen konnte. Die Pfarrämter waren dabei nach Kriegsende ganz zentrale Anlaufstellen. Aus dieser Situation ist der KSD entstanden, der sowohl von der Diakonie als auch von der Caritas getragen wird.
• Was konnten Sie in den vergangenen 70 Jahren erreichen?
In den 70 Jahren haben wir etwa 18 Millionen Anfragen beantwortet. Inzwischen haben wir Daten von über 20 Millionen Menschen aus den früheren deutschen Ostgebieten, dem Sudetenland und den deutschen Siedlungsgebieten. Dabei hatten wir eine Erfolgsquote von 60 bis 65 Prozent. Neben der Familienzusammenführung ergaben sich weitere Aufgaben – wir erteilen auch Behörden Auskünfte, zum Beispiel bei der Beschaffung von Urkunden, bei der Klärung von Personenstandsdaten oder helfen beim Nachweis von Staatsangehörigkeit. Auch Erbenermittler fragen bei uns auf der Suche nach Erben an. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des KSD haben über 70 Jahre hinweg hervorragende Arbeit geleistet.
• Wie lange brauchte der Kirchliche Suchdienst im Durchschnitt bis zu einer erfolgreichen Bearbeitung einer Anfrage ?
Das lässt sich so pauschal nicht sagen, da es ganz unterschiedliche Arten von Anfragen gibt – mal nach Personen, mal nach Erben, mal nach Kriegsgefangenenpost. Sie konnten mal schneller, mal weniger schnell geklärt werden. Wir haben uns aber bemüht, Anfragen innerhalb von maximal 20 Wochen zum Abschluss zu bringen oder wenigstens einen Zwischenbescheid zu geben.
• Fallen Ihnen besondere Geschichten ein, die aus den 18 Millionen Einzelschicksalen herausstechen?
Bewegend sind natürlich solche Fälle, wo sich Familienangehörige erst nach vielen Jahren oder Jahrzehnten wiederfinden. Wir haben es immer wieder erlebt, dass sich Geschwister nach 60 oder 65 Jahren durch unsere erfolgreiche Suchdienstarbeit getroffen haben. Einige Erfolgsgeschichten haben wir auf unserer Homepage unter „KSD aktuell“ veröffentlicht. Dankschreiben bekommen wir fast täglich, etwa wenn wir Familien Kriegsgefangenenpost schicken konnten. Das sind wirklich sehr emotionale und tiefgehende Briefe, wenn etwa ein Kind verschollen geglaubte Post des Vaters oder Großvaters plötzlich in den Händen hält.
• Wie hat sich die Arbeit des KSD über die Jahrzehnte verändert?
Während in den Nachkriegsjahren die Suche nach Familienangehörigen im Vordergrund stand, kamen im Lauf der Jahrzehnte weitere Aufgaben hinzu. Nach der Lastenausgleichsgesetzgebung kamen viele Anfragen von Vertriebenen, die uns für einen Nachweis für den Lastenausgleich oder Rentennachweis kontaktierten. Nach der Wiedervereinigung gab es das Vertriebenenzuwendungsgesetz. Vertriebene aus der ehemaligen DDR bekamen einen Pauschalbeitrag, mussten dafür nachweisen, dass sie Vertriebene waren. Auch hier konnten wir Zehntausenden helfen. In den 1990er Jahren beschäftigte uns der große Aussiedlerzustrom. Und nicht zuletzt hat sich auch die interne Arbeit durch die Technik komplett verändert – von Karteikarten zum Computer. Inzwischen sind alle 20 Millionen Karteikarten digitalisiert. Auch durch das Internet waren zuletzt Recherchen viel einfacher.
• An wen können sich Ratsuchende wenden, wenn Sie Ihre Tätigkeit nun einstellen?
Die meisten unserer Dokumente und Datensätze gehen voraussichtlich an das Lastenausgleichsarchiv nach Bayreuth und können dieses sinnvoll ergänzen. Natürlich können dort nicht mehr in dem Umfang Auskünfte wie beim KSD mit seinen 45 Beschäftigten erteilt werden. Man kann sich aber weiter an das Archiv wenden oder dort hinfahren und selbst die entsprechenden Recherchearbeiten durchführen. Die Kriegsgefangenenpost geht an die frühere Wehrmachtsauskunftsstelle, die heutige Dienststelle in Berlin. KNA