Stade. Über den Köpfen der Jugendlichen in der Stader St.-Cosmae-Kirche erhebt sich ein wahrer Orgelberg. Mehr als fünf Meter hohe Pfeifen strecken sich bis unter das Gewölbe der Kirche, füllen mit ihrem Bass den historischen Kirchenraum. Unter den Klängen der berühmten Barockorgel schreitet eine Gruppe Jugendlicher durch den Mittelgang der Kirche. “Ich hab mich dabei ganz wichtig gefühlt”, sagt kurz danach Larissa (13), die mit ihren Mitschülern aus der Lüneburger Heide zum Rendezvous mit einer Königin nach Stade bei Hamburg gekommen ist.
Königinnen der Instrumente, so werden Orgeln auch genannt. Kein anderes Musikinstrument verfügt über so viele Klangfarben, über einen so großen Tonumfang. Um den selbst zu erfahren und die tiefen Töne vielleicht auch im Bauch zu fühlen, hat die Stader Kirchenmusikerin Annegret Schönbeck ihre jugendlichen Gäste gebeten, unter dem Klang der Orgel über den Mittelgang in die Kirche einzuziehen.
Für den Orgel-Nachwuchs
Schon Mozart war von der Orgel begeistert und schrieb 1777, sie “seie meine Passion”. Doch von dieser Jahrhunderte alten Tradition und Faszination kommt heute bei Kindern und Jugendlichen nur noch wenig an. “Viele von ihnen waren noch nie in einer Kirche, wenn sie uns besuchen”, erzählt Annegret Schönbeck. Sie ist künstlerische Mitarbeiterin der Orgelakademie in Stade und entwickelt Projekte, damit die Orgel im kulturellen Bewusstsein bleibt – am besten von klein auf. Letztlich geht es dabei auch um Nachwuchsarbeit für Organisten.
Die Fakten sprechen für sich: Orgelbau und Orgelmusik in Deutschland gehören seit 2017 zum immateriellen Weltkulturerbe. Mehr als 50.000 Orgeln sind im Einsatz, es gibt bundesweit rund 400 handwerkliche Orgelbaubetriebe. Gespielt werden die Instrumente von 3.500 hauptamtlichen und Zehntausenden ehrenamtlichen Organisten. Doch so beeindruckend diese Zahlen sein mögen – “Kinder und Jugendliche muss man anders ansprechen, um sie für die Orgel zu begeistern”, betont Schönbeck.
Sie bittet die Schüler deshalb, ganz nah ranzugehen, das Holz der großen Orgel in St. Cosmae anzufassen, um den Klang am eigenen Leib zu spüren. Oder sich neben ihr auf den Rücken zu legen, damit sich die Vibrationen der Pfeifen auf den Körper übertragen. Sie organisiert Foren, damit Jugendliche an historischen Orgeln üben können. So bekommen junge Leute Zugang zu einzigartigen Instrumenten wie denen des barocken Orgelbaumeisters Arp Schnitger (1648-1719), dessen 300. Todesjahr gerade an der deutschen Nordseeküste und in den Niederlanden gefeiert wird.
Wie eine Nachtigall
Und wenn die Kinder nicht in die Kirche zur Orgel kommen, bringt Schönbeck die Orgel eben zu den Kindern – als Bausatz, im Orgelkoffer, als Modell. Ähnlich macht es Winfried Dahlke, Direktor des Organeums im ostfriesischen Leer. Er kommt mit einer mobilen Pfeifenorgel ins Klassenzimmer. Als besonderer Clou lassen sich damit Klänge erzeugen, die an das Gezwitscher der Nachtigall erinnern. “Die Kinder entdecken und enträtseln die Funktion der Orgel, hören die Pfeifenklänge und bilden dazu ihre eigenen Assoziationen”, erzählt Dahlke, der zuweilen als Helfer an seiner Seite auch die Figur des Kobolds “Arp Orgbold” einsetzt.
Besonders beliebt ist Willibald, ein vorlauter Orgelwurm aus dem Hamburger Michel, den Kirchenmusikdirektor Manuel Gera und seine Frau Anne-Katrin aus der Taufe gehoben haben. “Geboren am 21. März 1685 als Holzwurm in der Wiege von Johann Sebastian Bach war er zeitlebens ein Begleiter des großen Komponisten”, erläutert Gera mit einem Schmunzeln. Seit einigen Jahren assistiert die blaue Handpuppe mit ihrem knapp zwei Meter langen Stoffkörper bei Kinderkonzerten und begeistert vor allem die Kleinen. “Kinder unter zehn Jahren spricht er mehr an als ein lebendiger Mensch”, erzählt Gera.
Ein Instrument für jede Lebenslage
Und immer wieder geht es bei der Vermittlung ums Selbermachen. So hat der Halberstädter Orgelbaumeister Johannes Hüfken speziell für Kinder Orgelpfeifen-Bausätze entwickelt. Mit den “Melopipes” lassen sich leicht Melodien spielen. Das niederländische Projekt “Orgelkids” vertreibt Materialien, die Kinder zu spielbaren Instrumenten zusammensetzen können. Und Initiativen wie das süddeutsche Projekt “Königskinder” und die “Orgelentdeckertage” in Niedersachsen laden dazu ein, Orgeln zu erforschen und oft selbst zu spielen.
Die 13-jährige Larissa jedenfalls ist am Ende ihres Besuches in Stade begeistert von der Orgel, an der im 17. Jahrhundert auch Arp Schnitger auf der Empore der Cosmae-Kirche gebaut hat. “Wie er das gemacht hat, dass das alles noch immer zusammenhält, das finde ich faszinierend”, sagt die Schülerin. Und Annegret Schönbeck ist sich sicher, dass sich die meisten Kinder und Jugendlichen von der “Königin der Instrumente” begeistern lassen: “Die Orgel kann Gefühle wie Glück oder auch Trauer ausdrücken, in jeder Lebenslage. Es ist ein Instrument, das die Menschen im Innersten erreicht.” (epd)