Ein Berliner Bezirk hat der Einsamkeit den Kampf angesagt: Katharina Schulz ist seit mehr als einem Jahr offizielle Einsamkeitsbeauftragte. Ein Posten, der selbst in Südkorea auf Interesse stößt.
Stolze 99 Jahre wurde ihre Großmutter alt. Bis zuletzt hätte sie immer auf ihre große Familie zählen können. “Sie hatte ihre Töchter, Enkel und Urenkel stets bei sich”, erzählt Katharina Schulz. Sie wären immer da gewesen, hätten sie immer fürsorglich gepflegt. Und doch: “Meine Oma war trotzdem einsam. Alle Freunde aus ihrer Generation waren schon tot.” Einsamkeit habe viele Gesichter, weiß Schulz. Oft seien diese Gesichter versteckt und leise. Daher ist für die Einsamkeitsbeauftragte des Berliner Bezirks Reinickendorf nicht nur das Schicksal ihrer eigenen Großmutter der Antrieb, um gegen Einsamkeit zu kämpfen.
Im Februar vergangenen Jahres führte das Bezirksamt Berlin-Reinickendorf als bundesweit erste Kommune eine Vollzeit-Einsamkeitsbeauftragte ein. Der Posten geht auf Initiative der Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner (CDU) zurück. Seit Juli 2024 hat Katharina Schulz diese Aufgabe übernommen – und geht diese Arbeit mit viel Leidenschaft an: “Ich bin ein Mensch, der nicht das Problem sieht, sondern die Lösung”, sagt die 43-Jährige. “Und es gibt so viele Lösungen gegen Einsamkeit – man muss es nur machen.”
Und Schulz macht. Sie hat sie mehrere Stammtische gegen Einsamkeit etabliert. Dazu gesellen sich neun sogenannte Quasselbänke. Menschen, die auf diesen farbenfrohen Bänken sitzen, sollen signalisieren: “Ich will reden, ich brauche Kontakt.” Ein Angebot, das Schulz besonders am Herzen liegt, ist das Einsamkeitsessen an Heiligabend. “Wir kennen Menschen in Reinickendorf, die schon seit fünf, sechs Jahren Weihnachten alleine zu Hause verbringen”, erzählt sie. “Mit ihnen Heiligabend zu verbringen, hilft, einen Schritt aus der Einsamkeit zu gehen.”
Wichtig ist für Schulz ein möglichst einfacher Zugang zu den Angeboten: “Es muss barrierearm sein, ohne Verpflichtungen und nach Möglichkeit ohne Anmeldungen.” Einsamkeit sei noch immer ein großes Tabuthema. Für viele einsame Menschen sei es daher ein großer Schritt, diese Angebote zu besuchen. “Man braucht wirklich Mut”, sagt Schulz. Darüber zu sprechen, helfe – sowohl den einzelnen Menschen, als auch für eine Enttabuisierung.
“Ich hatte ein Gespräch mit einer Frau, die in ihrem Leben eine traumatische Erfahrung erleben musste. Sie hat sich nicht getraut, in ein Stadtteilzentrum zu gehen – obwohl es direkt gegenüber von ihrem Zuhause liegt.” Schulz habe ihr im Gespräch Mut zugesprochen, danach habe es die Frau gewagt. “Sie hatte mich später angerufen und gesagt: ,Ich habe es geschafft, ich bin jetzt jeden Tag da'”. Oft hört Schulz auch zu Anfang eines Gesprächs: “Ich frage für eine Freundin”.
Einsamkeit sei nicht nur ein Problem in der älteren Generation. Einsamkeit könne jeden treffen. “Sie hat kein Geschlecht, sie ist unabhängig von Alter, Herkunft oder Einkommen”, sagt Schulz. Einsamkeit sei zunächst das subjektive Gefühl, nicht gehört oder verstanden zu werden; nicht gebraucht oder nicht geliebt. “Jeder, der tief in sich hineinhorcht, merkt, dass er dieses Gefühl schon einmal hatte.” Gefährlich werde es, wenn Einsamkeit chronisch wird: “Für Mediziner ist eine chronische Einsamkeit gefährlicher als 15 Zigaretten am Tag.” Sie verstärke Angstzustände, Depressionen oder Diabetes.
Gerade deshalb ist es für Schulz wichtig, das Thema Einsamkeit in die Öffentlichkeit zu bringen. “Es sind schon die kleinen Dinge, die helfen”, sagt Schulz. Gerade in Berlin hätten viele Menschen durch die Hektik und Anonymität der Großstadt verlernt, achtsamer durch die Straßen zu gehen. “Teils wohnen Nachbarn zehn Jahre Tür an Tür, ohne je miteinander gesprochen zu haben. Das finde ich falsch.” Helfen könne schon ein ehrliches: “Wie geht’s Dir?” Oder Unterstützung beim Wocheneinkauf. “Wenn sich ein Mensch zurückzieht, sollte man auf ihn zugehen und fragen, ob er Hilfe braucht.” Jeder könne durch Kleinigkeiten ein Teil der Lösung sein. Diese Kleinigkeiten machen für Schulz Gemeinschaft aus.
Dass ihre Arbeit Früchte trägt, macht Schulz an der großen Resonanz aus dem In- und Ausland fest: “Als die Stelle ins Leben gerufen wurde, konnten wir uns vor Anfragen nicht mehr retten.” Selbst das südkoreanische Fernsehen war in Berlin, um ihre Arbeit zu dokumentieren. Als Einsamkeitsbeauftragte vernetzt sich Schulz mit anderen Städten und Kommunen, um von gegenseitigen Ideen und Projekten zu lernen und profitieren. Sie organisiert im Dezember einen Einsamkeitsgipfel, in dem Experten und Betroffene gleichermaßen zu Wort kommen sollen.
Oft sind es kleine Dinge, die Schulz bewegen und glücklich bei ihrer Arbeit machen. Bei der Einweihung einer der “Quasselbänke” im Herbst bat eine verwitwete Dame Schulz um Papier und Stift. Sie sei mit einer anderen Frau in Kontakt gekommen und wolle jetzt die Nummern austauschen. “Sie kamen alleine und gingen zusammen.”