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Widerstand mit Musik: Bluesmessen in der DDR

Die Bluesmessen in Ostberliner Kirchen waren ein legendäres Kapitel der DDR-Geschichte. Die erste fand im Juni vor 45 Jahren statt. Zehntausende besuchten sie insgesamt.

Die Bluesmessen fanden regelmäßig in der Samariter- kirche in Berlin-Friedrichshain, später zusätzlich in der Auferstehungskirche und schließlich auf dem Grundstück der Erlöserkirche statt. Zur ersten Bluesmesse am 11. Juni 1979 kamen 250 Teilnehmer. Die meisten hatten bis dahin noch nie eine Kirche betreten.
Die Bluesmessen fanden regelmäßig in der Samariter- kirche in Berlin-Friedrichshain, später zusätzlich in der Auferstehungskirche und schließlich auf dem Grundstück der Erlöserkirche statt. Zur ersten Bluesmesse am 11. Juni 1979 kamen 250 Teilnehmer. Die meisten hatten bis dahin noch nie eine Kirche betreten.Bundesstiftung Aufarbeitung Eastblockworld EBW_PH_1100863, Regani/CC BY-SA 3.0/Wikimedia

Ralf Hirsch hat diese Momente sein Leben lang nicht vergessen: Wenn der damals 19-jährige Schlosser bei den Konzerten von der Empore auf Tausende junger Leute in der Ostberliner Erlöserkirche sah, blickte er in „unglaublich viele“ glück­liche Gesichter. „Vor allem waren sie gierig nach Worten“, sagt er.

Auch wenn es einigen gelungen war, bei den Konzerten Bier- oder Schnapsflaschen an Ordnern wie Ralf Hirsch vorbei in die Kirche zu schmuggeln, war das nicht das vorrangige Thema. Vor allem ging es darum, sich einmal nicht als Außenseiter zu fühlen. Sich einmal von all dem Frust in dem „langweiligen Laden DDR“ zu befreien, der sie „anstinkte“ und vor allem gängelte, sich für einen Moment bestätigt zu fühlen. Und einmal auch nach dem Sinn ihres und des Lebens ihrer Mitmenschen zu fragen.

Anziehungspunkt für Jugendliche

Die Rede ist von den legendären Bluesmessen, die seit 1979 unangepasste, „ausgeflippte“ Jugendliche von der Straße aus der ganzen DDR zu Zehntausenden nach Berlin zogen. Die erste davon fand am 11. Juni 1979, vor genau 45 Jahren, in der Samariterkirche in Berlin-Friedrichshain statt.

Weil die mit ihren 2000 Plätzen schnell zu eng geworden war, gab es schon bald darauf eine weitere Runde in der nahe gelegenen Auferstehungskirche. Später dann zog man in die Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg. Die hatte einen viel größeren Außenbereich, hier konnten die Tausenden auf dem Gelände vor der Kirche warten, bis sie zum nächsten Konzert „dran“ waren. Bis zu vier gab es davon an einem Tag.

Ein besonderes Kapitel des Widerstands

Zur ersten Bluesmesse in der ­Samariterkirche waren 250 Jugendliche gekommen, kurz vor Schluss 1986 in der Erlöserkirche kamen bis zu 7.000. 20 Bluesmessen gab es über die Jahre, die geschätzt von bis zu 40.000 Jugendlichen insgesamt besucht wurden. Wie viele es genau waren, weiß keiner. Fest steht, dass die Bluesmessen ein ganz besonderes Kapitel des Widerstandes gegen die Staatsmacht waren, ein ungewöhnliches Modell des christlich-politischen Handelns in der DDR und ein Schritt auf dem Weg zur Friedlichen Revolution von 1989. Auch dank der Kirchen, in denen sie stattfanden.

Begonnen hatte alles in der Wohnung von Rainer Eppelmann, der in der Samaritergemeinde ­Berlin-Friedrichshain Pfarrer und Jugendpfarrer war. Günter Hollwas, den alle „Holly“, nannten, saß vor ihm und erklärte, auch einmal Bausoldat gewesen zu sein – so wie der Pfarrer auch. „Holly“ war Blues­musiker, hatte lange Haare, trug speckige Kleidung und versprach: „Ich mache deine Kirche voll.“ Eppelmann willigte etwas skeptisch ein und „Holly“ veranstaltete das erste Blueskonzert am 1. Juni 1979. Die Kirche war aber nur zu einem Viertel voll. „Und alle sahen aus wie Holly“, erinnert sich Eppelmann.

Porträts (von links): Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch, Martin-Michael Passauer.
Porträts (von links): Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch, Martin-Michael Passauer.epd-bild/Rolf Zöllner, Bianca Krüger

Das sollte sich ändern. Schnell sprach es sich über den „Buschfunk“ in der ganzen DDR herum: Dort wird nicht nur Musik gemacht, es werden auch Dinge angesprochen, über die man eigentlich nicht sprechen durfte: von der Wohnungsnot über Polizeirepressalien bis hin zur Gerechtigkeit, von der die Jugendlichen auf der Straße nur träumen konnten.

„Wie gehe ich mit dir, mit mir, mit der Erde um?“ war ein Thema. „Rückgrat gefragt“ ein anderes. „Wir wollen Menschen sein oder werden mit einem aufrechten Gang …, mit einem Arsch in der Hose“, hieß es da. „Und bitte, was eigentlich ist ­Liebe?“, war eine andere Frage. Das Stadtjugendpfarramt lud zwar ein, doch die inhaltlich von einer achtköpfigen Trägergruppe vorbereiteten Bluesmessen waren etwas völlig anderes als die Stadtjugendsonntage. Als herkömmliche Gottesdienste erst recht.

Biblische Botschaft im Jargon der Straße

Zuallererst unterschied sich die Sprache: die biblische Botschaft im Jargon der Straße. Es ging um offene Jugendarbeit, um junge Menschen, die sonst nichts mit der Kirche am Hut hatten, aber im tiefsten Inneren nach dem Sinn ihres Lebens fragten. Und nicht zuletzt nach ihrem Platz in der DDR, die sie ablehnten und lieber heute als morgen verlassen hätten.

„Etliche von ihnen wurden drei bis sechs Stunden vor Beginn der Bluesmessen von der Transportpolizei aus den Zügen nach Berlin geholt“, erinnert sich Ralf Hirsch. Er war verantwortlich für die 40-köpfige Truppe, die für die Organisation sorgte und dafür, dass alles ­reibungslos ablief. Nachts machten sie die Kirche wieder sauber. Sie achteten darauf, dass die ­Jugendlichen in der Kirche nicht rauchten und tranken. Eine „Schnaps-Garderobe“ war dafür eingerichtet worden, an der sie die Flaschen abgeben mussten. Nicht alle hielten sich daran. Doch die Jugendlichen, die in der DDR mit ihren Klamotten und ihrem ganz und gar unangepassten Lebensstil längst „draußen“ standen, waren erstaunlich diszipliniert, wie sich Hirsch erinnert. „Es grenzt an ein Wunder, dass nicht Schlimmeres passiert ist“, sagt er heute. Zuständig waren die Ordner auch für die Erste Hilfe. Ständig stand ein Trabant mit einer Ärztin und zwei Krankenschwestern nahe der Kirche.

Stasimann versprühte Buttersäure

Doch nicht die Jugendlichen, eher die Aktionen der Staatssicherheit (Stasi) waren ein Problem. Einmal hatten sie bei dem Konzert in der Menge Buttersäure versprüht. „Haltet das Schwein“, schrien die Jugend­lichen und drängten durch die Kirche. Die Ordner hatten alle Hände voll zu tun, den Stasimann unversehrt nach draußen zu bringen. Gefilmt von dem Barkas, dem Transportwagen der Staats­si­cher­heit, der draußen stand und sowieso alle filmte. Drinnen in der Kirche war lauter Gesang zu hören: „Trotz Gestank und alledem.“ Und so manches Mal hieß es während der Bluesmesse in der Kirche: „Wir begrüßen auch alle, die dienstlich hier sind.“ Die Angst vor dem Geheimdienst wollte bewältigt werden.

Ralf Hirsch, der zunächst als Schlosser in einem VEB-Betrieb ­tätig war, wurde vor den Blues­messen regelmäßig von der Polizei ab­geholt. Das wurde seltener, als er zur evangelischen Kirche wechselte und in der Friedhofsverwaltung arbeitete. „Zur Klärung eines Sachverhaltes“ ging es dann in Ost­berlins Keibelstraße, wo die Verhöre stattfanden.

Eindeutiges Signal an den Staat

Dann geschah etwas, was Hirsch ebenfalls nie vergessen wird: Vor dem berüchtigten Polizeipräsidium, das auch eine gefürchtete Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums des Inneren war, tauchte der damalige Stadtjugendpfarrer und spätere Generalsuperintendent von Berlin, Martin-Michael Passauer, auf. Er forderte, Ralf Hirsch freizulassen. Der sei gar nicht hier, hieß es. „Doch, der ist hier“, entgegnete Passauer und erklärte, er gehe nicht ohne ihn hier weg. Er wartete und wartete unter der Beobachtung der Stasi. Das wirkte. Als Ralf Hirsch ­herauskam, brachte Passauer ihn in seinem Wartburg nach Hause. Das Signal an den DDR-Staat hätte nicht eindeutiger sein können.

Hatte der Staat die Bluesmessen anfänglich mit wohlwollender Distanz betrachtet, wurden sie schon bald bekämpft. Die Kirche bot etwas völlig anderes als Veranstaltungen der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Jugendorganisation der SED. Für den Staat, der die Hoheit über die Jugendlichen behalten wollte, obwohl viele innerlich längst weggelaufen waren, war das ein rotes Tuch. Er versuchte, über die Kirchenleitung Druck auszuüben, was nur mäßig gelang, aber nicht ohne Diskussionen über den Inhalt und Ablauf der Bluesmessen ablief.

Meilenstein auf dem Weg zum Ende der DDR

Dankbar erinnert sich Rainer Eppelmann an Pfarrer wie Heinz-Otto ­Seidenschnur von der Auferstehungskirche, aber auch an Bischof Gottfried Forck (1923–1996) und Konsistorialpräsident Manfred Stolpe (1936–2019), ohne die es die Bluesmessen so nicht gegeben hätte. „Und die ­Gemeinde der Erlöserkirche, die sie immer wieder in ihren Räumen nicht nur duldete, sondern gegen ­alle Widrigkeiten des Staates auch unterstützte, verdient einen Platz im Himmel“, sagt Martin-Michael Passauer.

Im November 1986 fand die letzte Bluesmesse statt. „Irgendwie war die Luft raus“, erinnert sich Rainer Eppelmann. Das Thema Frieden rückte auf die Tagesordnung. Die DDR kam ins Wanken, ihre Jahre waren gezählt. Auch die Bluesmessen waren ein Meilenstein auf dem Weg dorthin.