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Wider den Nächsten

Lügen kommen in der Bibel immer wieder vor. Manchmal werden sie sogar von Gott gebilligt. Kann das sein, wo es doch in den Zehn Geboten heißt: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“ …?

„Ihr Herren, wie lange soll meine Ehre geschändet werden? Wie habt ihr das Eitle so lieb und die Lüge so gern!“ (Psalm 4,3) Ein Klagelied, zu begleiten auf Saiteninstrumenten, das zeigt: „Lüge“ ist in der Bibel vom 1. Buch Mose bis zur Offenbarung ein großes Thema! Formen des Wortes kommen über 130 Mal in der Lutherbibel vor. Ist das biblische Menschenbild negativ? Nein: nur recht realistisch und verblüffend aktuell.
Phrase, Floskel, geflunkert – andauernd wird gelogen. „Ehrlich jetzt? Ich doch nicht!“ Drei bis vier Mal oder zwölf Dutzend Mal pro Tag, je nach Zählart, Definition und Gewissenhaftigkeit. Wenn man Grußformeln und Anreden mitrechnet, kommt man auf die hohe Lügenzahl pro Tag. Dann schlägt einem kaum mehr das Gewissen. Dabei heißt es doch: „Gewöhne dich nicht an die Lüge; denn das ist eine Gewohnheit, die dir Schaden bringt.“ So jedenfalls lautet eines der Sprichwörter, die im Weisheitsbuch Jesus Sirach gesammelt sind (7,14).

Gutes reden und alles zum Besten kehren

„Du sollst nicht lügen!“ – das hätten Eltern gern und Lehrer, gewiss. Das steht aber nicht als 8. oder 9. Gebot – je nach Zählung – in der Bibel. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ (2. Mose 20,16) Was ist das? „Wir sollen Gott fürchten und lieben“, haben Generationen den Katechismus gelernt, „dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren“.
Die Bibel erzählt dennoch in vielen Geschichten von Lug und Trug. Bathseba belügt den greisen David, managt so einiges im Palast und trickst bei der Thronfolge. Josephs Brüder bringen dessen blutiges Gewand und belügen Jakob. Jakob lügt und betrügt Esau um sein Erstgeburtsrecht. Abraham gibt Sarah als seine Schwester aus. „Wo ist dein Bruder Abel?“ „Weiß ich nicht,“ lügt Kain. „Adam, wo bist du? Hast du etwa von den verbotenen Früchten gegessen?“ „Du hast mir doch die Frau… Und die…“ „Die Schlange betrog mich. Die ist schuld…“

In der jungen Kirche hielten sie eng zusammen, waren ein Herz und eine Seele, heißt es. Gemeinsames Eigentum, omnia communia! Hochgehalten als christlicher Urkommunismus. Die Leute verkauften ihre Äcker und spendeten sie. Doch was ist, wenn die Freiwilligkeit fehlt? Ein Paar, Hananias und Saphira, spendeten nicht alles, was sie besaßen. „Was ist, wenn diese Sache schiefgeht? Vielleicht dachten sie an ihre Altersvorsorge. Von Petrus mit „Du hast nicht Menschen, sondern Gott belogen“ zur Rede gestellt, bekommt Hananias einen Herzinfarkt und wird bestattet. Als drei Stunden später seine nichtsahnende Frau kommt, muss sie die wenig zartfühlenden Worte hören: „Siehe, die Füße derer, die deinen Mann begraben haben, sind vor der Tür und werden dich auch hinaustragen.“ Und sie stirbt.
Warum steht das in der Bibel? Offenbar wird von der Gemeindeleitung Druck ausgeübt. Doch was nützt alles „ein Herz und eine Seele“, wenn’s gelogen ist, wenn man nicht auf die Sorgen der beiden eingehen will? Diese Geschichte schreckt ab. „Ein gewaltiger Schrecken packte die ganze Gemeinde, alle, die davon hörten.“ (Apostelgeschichte 5,11).

Aber wie steht es eigentlich mit Petrus selbst, der sich in dieser Geschichte zum Richter aufspielt? „Ich kenne den Menschen nicht, von dem ihr redet“, lügt er, während Jesus als Angeklagter vor dem Hohen Rat steht. „Gott soll mich strafen, wenn ich lüge!“ Durch seine Selbstverfluchung wird er nicht glaubhaft. Ehe der Hahn zweimal kräht, hat er Jesus dreimal verleugnet. Dann geht er und weint bitterlich.
Wie geht’s in einer Gemeinde zu? „Legt das Lügen ab und sagt zueinander die Wahrheit“, muss Paulus nach Ephesus schreiben. Vom Neuen Jerusalem sagt die Offenbarung, dass alle, die die Lüge lieben und tun, draußen vor der Stadt bleiben müssen. Die Stadt ausgemalt als das wiederhergestellte Paradies.

Gott hasst das Lügen. Stimmt. Im Prinzip. Aber sagt die Bibel nur das? Die Sache ist nicht ganz so einfach. Es wird durchaus auch mit Gottes Billigung gelogen – man denke nur an Rebekkas Trick, um ihrem geliebten Jakob den Segen zu sichern (1. Mose 27).
Mit einer großartigen Lügengeschichte beginnt auch das 2. Buch Mose. In Ägypten herrschte damals mit einer Angst vor „Überfremdung“ eine feindliche Stimmung wie: „Die Hebräer sind unser Unglück!“ Der König von Ägypten lässt zwei Hebammen kommen, Schifra und Pua, und befiehlt: „Wenn ihr den hebräischen Frauen bei der Geburt beisteht, dann achtet darauf, ob sie einen Sohn oder eine Tochter zur Welt bringen. Die männlichen Nachkommen müsst ihr sofort umbringen, nur die Mädchen dürft ihr am Leben lassen.“ Aber die zwei halten sich nicht an den Befehl. Also muss eine Lüge her, um selbst zu überleben: „Jedes Mal kommen wir zu spät. Die Kinder sind da immer schon geboren und haben schon geschrien. Was sollen wir machen?“

Manche Lügen werden von Gott belohnt

Die Bibel erzählt diese Lügengeschichte, weil den Hebammen das Gewissen schlägt: Ziviler Ungehorsam. „Gott muss man mehr gehorchen als den Menschen“ – dieser berühmte Satz der Antigone aus dem Drama des Sophokles passt auch auf Schifra und Pua, ein halbes Jahrtausend früher als Sophokles! So beginnt das 2. Buch Mose als Buch der Freiheit.
Schifra und Pua glauben an eine universelle Ethik. „Du sollst lügen, wenn dein Nächster in Gefahr für Leib und Leben ist und wenn andere Abhilfe zu seiner Rettung nicht möglich ist.“ „Darum tat Gott den Hebammen Gutes.“ (2. Mose 1,20).