„Unser Pfarrer fragte mich, ob ich nicht bei einem neuen Gemeindeprojekt mitmachen wolle. Ich war gerade in die Gemeinde gezogen und frisch in Rente“, erinnert sich Ruth Joachim Das war 1987. Die damals 56-Jährige nahm das Angebot vom neuen Pfarrer Volker Rottmann zum Stadtteilprojekt der Gemeinde Grumme (heute Bezirk Johanneskirche, Kirchengemeinde Bochum) an und machte mit. „Spannend finde ich bis heute daran, dass die Kirche da über den Zaun sprang und in den Stadtteil gegangen ist“, schmunzelt die Seniorin in ihrem Ruhrgebietsdialekt.
Skepsis: „War ja immer noch Kirche“
Ruth Joachim, die allgemein beim Vornamen genannt wird, ist nun seit mehr als 29 Jahre dabei. Erst war es die Mitarbeit am „Grummer Treff“, einem Café-Angebot von Ehrenamtlichen, das im Gemeindesaal stattfand. Seit 1991 ist sie ehrenamtlich im „StadtTeilLaden Grumme“ dabei, der in einer Ladenzeile aus den 70er Jahren nahe der Kirche sein Zuhause hat. „Da war die Kirche zwar im Stadtteil angekommen, aber die Leute blieben skeptisch. War ja immer noch Kirche“, erinnert sich Ruth. „Ich habe dann die Leute persönlich an der Tür angesprochen und sie eingeladen.“ Schließlich sollte der Laden ein Ort für alle Menschen im Quartier werden, egal ob katholisch, evangelisch, Ausländer oder Einheimische.
Noch heute backt die 85-Jährige an jedem Dienstagnachmittag Waffeln, kocht zwei Mal die Woche das Mittagessen und strickt Socken oder macht Marmelade ein. Der Erlös kommt dem Gemeindeprojekt und seinen Aktivitäten zugute.
Der Weg in den Stadtteil begann bereits 1986. Die damalige Evangelische Fachhochschule Rheinland, Westfalen, Lippe, Fachbereich Sozialarbeit (heute Ev. Fachhochschule), fragte alle evangelischen Gemeinden in Bochum, ob sie Interesse an einer Sozialraumuntersuchung hätten. Die Fragestellung lautete: „Wie können Gemeinden auf eine mit dem Älterwerden einhergehende Veränderung der Lebensbedürfnisse ihrer Gemeindeglieder reagieren?“ Einzig die Gemeinde Grumme machte mit, wo der damals 27-jährige Pfarrer Rottmann die Aufgabe als Pfarrstellenverwalter übernommen hatte.
Die Sozialraumuntersuchung der Studierenden machte deutlich, dass der Stadtteil Grumme die durchschnittlich älteste Bevölkerung in Bochum hatte. „Das hieß für uns: Angebote für Senioren müssen her“, erklärt der Pfarrer rückblickend. Die Studierenden suchten deshalb Ehrenamtliche. Sie fragten die Bürger vor örtlichen Geschäften: „Haben Sie Lust, sich für Grumme einzusetzen?“ Die Rückmeldung war gewaltig: Über 60 Leute kamen zur ersten Versammlung. Das Café „Grummer Treff“ entstand.
Mit dem Stadtteilladen in der Ladenzeile Ennepestraße der regionalen Wohnungsgesellschaft VBW ging es 1991 weiter. Rausgehen in den Stadtteil hieß die Devise, anstatt auf das Kommen der Stadtteilbewohner in die kirchlichen Räume zu warten. Sie kamen nämlich nicht. Die Gemeinde stellte dafür mit Hilfe des Arbeitsamtes Sozialarbeiter Friedhelm Lemm ein. „Bevor er einziehen konnte, musste er in einem Wohnwagen sein Büro einrichten“, berichtet Rottmann zur damaligen Situation.
Niedrigschwellig: Kirche ohne „Stolperkante“
Ruth war mit dabei. „Der Laden ist mein ,Kind‘. Wir haben ihn zusammen renoviert und gleich das erste Straßenfest organisiert“, erzählt die Seniorin. Das war jedoch viel kleiner als heute, wo bis zu 1000 Leute die Straße zwischen Kirche und Laden bevölkern. „Unsere wichtigste Aufgabe bestand darin, Netzwerke zu bilden. Für die Menschen hieß das, möglichst niederschwellig zu arbeiten“, erinnert sich Friedrich Lemm, der noch heute dem StadtTeilLaden ehrenamtlich verbunden ist.
Die Studenten und deren Professorin Ursula Zinda blieben auch. „Für sie war das Projekt ein gutes Arbeitsfeld, wo sich Theorie und Praxis miteinander gut verzahnten“, betont Zinda rückblickend. Stolz ist sie darauf, dass nachher alle Studierenden, die an dem Projekt mitgearbeitet hatten, sofort Stellen im Arbeitsmarkt fanden.
Die nächste Station war 1993 die Gründung des Bürgervereins „Leben im Stadtteil“ als zweiten Träger des Stadtteilladens. „Nun fühlten sich auch die Bürger angesprochen, die mit Kirche nicht viel am Hut haben“, erinnert sich Edeltraud Drees, die heutige Vereinsvorsitzende. Die Arbeit erhielt eine breitere Basis. Mut machten 1999 zudem zwei Auszeichnungen: Die Evangelische Kirche von Westfalen würdigte den Stadtteilladen mit dem Förderpreis Konziliarer Prozess. Das Land Nordrhein-Westfalen zeichnete es als bürgerschaftliches Zukunftsprojekt mit dem Robert-Jungk-Preis aus. „Das fand ich toll“, freut sich Ruth Joachim noch jetzt.
Die Professionalisierung schritt voran. Eine vom Stadtteilladen organisierte Stadtteilkonferenz brachte die örtlichen Schulen, Vereine, Parteien und Gemeinden zusammen. Der Jugendtreff „Sit down“ schuf 2001 ein Angebot für Jugendliche, die sich damals dafür starkmachten. „Sie wurden überall vertrieben“, erinnert sich die heutige Sozialarbeiterin Silke Neufeld. Der Stadtteilladen moderierte zwischen dem Nachwuchs, der Jugendverwaltung und der Politik. Der Treff entstand.
Auch Jugendliche fanden ein Zuhause
Heute sind die Projekte „Miteinander – Füreinander“ (Patenschaft für Geflüchtete) sowie „Zuhause Alt Werden“ (Patenschaft mit Senioren) neue Standbeine des Stadtteilladens. Etwa 40 Ehrenamtliche unterstützen die Arbeit.
Rottmann, auch heute noch Gemeindepfarrer, blickt nach 30 Jahren zuversichtlich in die Zukunft. „Die Bereitschaft der Gemeinde, sich für den Stadtteilladen einzusetzen, das ehrenamtliche Engagement der Bürger für das Ladenprojekt sowie unsere gute, nicht immer konfliktfreie Zusammenarbeit mit Politik und Verwaltung machen uns dafür Mut.“ Ein gutes Beispiel für dieses Miteinander sei ein ganz anderes Projekt der Gemeinde Bochum, so der Pfarrer: „2009/2010 konnten wir durch diese Kontakte das heutige multikulturelle Zentrum Q1 anstelle der Friedenskirche anschieben.“ Damals leitete er zusammen mit Pfarrerin Heike Lengenfeld-Brown das Presbyterium. Und Grumme war schon Teil der Gesamtgemeinde.
Kontakt: Leben im Stadtteil e.V. Ennepestraße 1, 44807 Bochum, Telefon: (02 34) 59 12 14, E-Mail: info@stadtteilweb.de.