Emmanuel Pagalos muss bei Sarah Fischer ganz behutsam sein. Er behandelt die 29-Jährige mit der sogenannten Cranio-Sacral-Therapie. „Ich übe sanfte manuelle Impulse aus, um Spannungen im Gewebe und Dysbalancen in den Muskeln zu behandeln“, erläutert der Physiotherapeut und Osteopath aus Frankfurt am Main. Die Behandlung darf nicht zu kräftig erfolgen, es könnte zu „knöchernen Reaktionen“ kommen, sagt Pagalos.
Denn Sarah Fischer leidet an der genetischen Erkrankung Fibrodysplasia Ossificans Progressiva, kurz FOP. Ihr Vater Ralf Fischer beschreibt den Krankheitsverlauf: „Dabei verknöchern in Schüben oder durch äußere Einflüsse wie Stürze oder Injektionen Muskeln und Gewebe.“
Der Gendefekt FOP ist extrem selten. Weltweit sind nur rund 900 Erkrankte bekannt, die Dunkelziffer gilt indes als deutlich höher. Mediziner gehen davon aus, dass es einen Fall unter einer Million Menschen gibt, aber Symptome sind oft nicht eindeutig. „Viele Menschen wissen nicht, dass sie an FOP erkrankt sind“, berichtet Ralf Fischer.
Auch bei seiner Tochter hat es lange gedauert, bis die Diagnose feststand:
Als Kind hat Sarah noch wie alle Gleichaltrigen Purzelbäume geschlagen, ist Rad gefahren und hat Federball gespielt: Erst mit sieben Jahren tauchten plötzlich Schwellungen am Rücken auf. Es begann eine Odyssee bei Ärzten und Kliniken. Erst bestand der Verdacht auf Krebs, dann wurde der Grund für die Krankheit des Mädchens entdeckt. Weil ihre Muskeln immer mehr verknöchert sind, ist Sarah heute auf den Rollstuhl angewiesen.
Um seiner Tochter und anderen Betroffenen zu helfen, engagiert sich Ralf Fischer seit elf Jahren als Vorsitzender des Fördervereins für FOP. Die Selbsthilfegruppe hat international 206 Mitglieder, davon sind 71 selbst FOP-Patienten. Jedes Jahr gibt es ein Treffen, zu dem internationale Expertinnen und Experten kommen. „Noch gibt es keine zugelassene Therapie, um FOP zu heilen oder das Fortschreiten zu verlangsamen“, bedauert Fischer.
Viele Ärzte und Krankenhäuser sind mit der Behandlung der seltenen Krankheit überfordert. „Es besteht auch immer die Gefahr einer Fehldiagnose und einer falschen Therapie“, sagt Clemens Stockklausner, Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Garmisch-Partenkirchen. Die Klinik in Bayern hat sich als Anlaufstelle für FOP-Patienten aus ganz Europa etabliert.
Die Erfahrungen, die dort gemacht werden, gibt Stockklausner an andere Kollegen weiter – denn er hat es schon erlebt, dass andere Ärzte FOP-Patienten operieren wollten, um Verknöcherungen zu entfernen. „Davor musste ich warnen, denn den Patienten wird massiv geschadet, wenn man chirurgisch eingreift“, erläutert Stockklausner. Der Stich mit der Spritze bei einer Impfung oder der Schnitt mit einem Skalpell in Haut und Muskeln können dazu führen, dass die weichen Teile zu Knochen werden. Das Klinikum beteiligt sich derzeit an einer Studie zusammen mit Universitäten in Amsterdam, Oxford und Harvard. Dabei wird ein Medikament erprobt, das verhindern soll, dass die Muskeln verknöchern, wenn FOP-Patienten operiert werden.
Aus seiner Praxis weiß Stockklausner, dass es bei FOP viele unbekannte Faktoren gibt – auch wenn alle Patienten den gleichen Gendefekt haben, sind die Verläufe sehr unterschiedlich. „Es gibt Kinder mit sehr schnellen Schüben, aber einige Erwachsene haben erst mit 30 Jahren ihre Diagnose.“
Wie unterschiedlich sich FOP auf das Leben auswirkt, ist auch bei den Treffen der Selbsthilfegruppe zu beobachten: Bei der jüngsten Versammlung war der Journalist Michael Scheyer mit der Kamera dabei, der über Sarah Fischer und die Krankheit FOP den Dokumentarfilm „Bis auf die Knochen“ gedreht hat. Dort kommt eine 24-jährige Österreicherin zu Wort, die „nur mit dem Handgelenk, dem Knie und dem Kiefer“ Probleme hat. Ein 47-jähriger Mann aus dem Elsass hat seine Arbeit verloren, „weil ich nicht mehr Auto fahren durfte“. Immerhin kann er noch laufen und schafft es, Fotos zu machen.