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Was ist anders in dieser Nacht?

Zum Ostersonntag über den Predigttext 2. Mose 14,8–14.19–23.28–30a;15,20f.

Predigttext (in Auszügen)
10 Und als der Pharao nahe herankam, hoben die Israeliten ihre Augen auf, und siehe, die Ägypter zogen hinter ihnen her. Und sie fürchteten sich sehr und schrien zu dem HERRN 11 und sprachen zu Mose: Waren nicht Gräber in Ägypten, dass du uns wegführen musstest, damit wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? … 19 Da erhob sich der Engel Gottes, der vor dem Heer Israels herzog, und stellte sich hinter sie. Und die Wolkensäule vor ihnen erhob sich und trat hinter sie 20 und kam zwischen das Heer der Ägypter und das Heer Israels. Und dort war die Wolke finster und hier erleuchtete sie die Nacht, und so kamen die Heere die ganze Nacht einander nicht näher. 21 Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der HERR zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken, und die Wasser teilten sich. 22 Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken. 23 Und die Ägypter folgten und zogen hinein ihnen nach, alle Rosse des Pharao, seine Wagen und Reiter, mitten ins Meer. … 28 Und das Wasser kam wieder und bedeckte Wagen und Reiter, das ganze Heer des Pharao, das ihnen nachgefolgt war ins Meer, sodass nicht einer von ihnen übrig blieb. 29 Aber die Israeliten gingen trocken mitten durchs Meer, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken. 30 So errettete der HERR an jenem Tage Israel aus der Ägypter Hand. …  20 Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. 21 Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem HERRN singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.

Es ist Sederabend, die Familie sitzt am festlich gedeckten Tisch, das jüdische Pessachfest beginnt. Alle warten, bis das jüngste Kind die eine Frage stellt: „Was ist anders in dieser Nacht als in allen anderen Nächten?“ Und dann beginnen sie zu erzählen: Wie Gott die Hilfeschreie seines Volks hört. Wie Gott sie aus dem Elend herausführt, leitend vor ihnen hergeht und sich schützend hinter sie stellt, wie Gott bei ihnen bleibt und immer neue Wege bahnt. Sie erzählen sich hinein in die Geschichten ihrer Väter und Mütter, bis am Ende das befreite Halleluja erklingt.

Erzählungen von Rettung und Befreiung

Es ist Ostern 2021, hinter uns liegt ein bedrückendes Jahr. Viele warten, dass wir Christinnen und Christen an unserem höchsten Fest die eine Frage stellen: „Was ist anders in dieser Nacht als in allen anderen Nächten?“ Und dass wir zu erzählen beginnen: Wie uns der Schrecken und die Angst im Nacken saßen. Wie Gott uns gefunden hat, während wir ihn verzweifelt suchten. Wie uns Hoffnung zuwuchs, als nichts mehr zu hoffen war.

In der Osternacht hat der auferstandene Christus uns mit hin­eingenommen in die Rettungs- und Befreiungsgeschichte Gottes mit seinen Menschen. Wir dürfen dazugehören zu denen, die Gott „sein Volk“ nennt. Und wenn unser österliches Halleluja auch in diesem Jahr nicht gemeinsam aus voller Kehle erklingen kann, dann werden wir schmerzlich daran erinnert: In jedem Jubel der Befreiten, in jedem Loblied der Geretteten schwingt die Klage über die Toten mit.

Die mit Gottes wundersamer Hilfe – ohne eigenes Zutun! – durch das lebensbedrohliche Schilfmeer gezogen sind, haben sich verändert. Am anderen Ufer wird nichts mehr sein wie zuvor. Auch wir selbst werden andere sein: um vermeintliche Selbstverständlichkeiten ärmer, scheinbarer Sicherheiten beraubt, in Trauer um geliebte Menschen. Und: mit einer wunderbaren göttlichen Verheißung beschenkt, um eine unerschütterliche Hoffnung reicher, unter allen Umständen unterwegs zum Leben.

Frauen waren es, die den Spalt entdeckten. Den hoffnungsvollen Spalt, der sich auftut zwischen dem, wie es vorher war, und dem, wohin Gott uns führen will. Kraftvoll singt Mirjam ihr Lied von Gottes Stärke. Andere stimmen ein und tanzen mit. Auch in den Ostergeschichten sind es Frauen. Bleierne Traurigkeit auf der Seele, den Schrecken des Todes in den Gliedern hören sie die Worte des Gottesboten: „Fürchtet euch nicht!“. Und sie machen sich auf, mit Furcht und Zittern – hinein ins Leben.

„Was ist anders in dieser Nacht als in allen anderen Nächten?“: Bis heute erzählen Jüdinnen und Juden, wie Gott ihre Väter und Mütter errettete und in die Freiheit führte. Gott sei Dank sind auch die Frauen am Ostermorgen nicht stumm geblieben. Sie haben erzählt, was ihnen am Grab Jesu widerfuhr, als die Nacht des Todes dem Licht des Ostermorgens wich: „Er ist auferstanden, er ist nicht hier.“ Bis heute singen und sagen Menschen davon. Sie nehmen den Mund übervoll: mit einer Botschaft, die größer ist als ihre Erfahrung, gewisser als ihr Glaube und stärker als alles, was sie hoffen.

Was ist mit uns? Vielleicht wurde unser Singen und Sagen selten so nötig gebraucht wie in diesem Jahr zum Osterfest.