Wird der Griff zum Desinfektionsfläschchen illegal? Der verbreitete Inhaltsstoff Ethanol schützt vor Bakterien und Viren. Doch härtere EU-Regulierungen könnten den Zugang bald erschweren – mit Konsequenzen für Patienten.
In öffentlichen Toiletten gehören sie spätestens seit der Covid-Pandemie zum Standard-Repertoire: Spender mit Desinfektionsmittel. Meistens enthalten sie Ethanol. Doch damit könnte bald Schluss sein: Auf EU-Ebene läuft momentan ein Prüfverfahren der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA). Ein Expertengremium soll beurteilen, ob Ethanol generell als krebserregend einzustufen ist. Der Stoff könnte dann in Desinfektionsmitteln verboten werden.
Ärzte- und Pharmaverbände rebellieren. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeine und Krankenhaus-Hygiene warnt vor gesundheitlichen Folgen: Ethanol lasse sich durch andere Produkte kaum ersetzen. Mitarbeitende in Krankenhäusern desinfizieren mit Ethanol ihre Hände, zum Beispiel vor Operationen. “Würde man Ethanol verbieten, wäre das eine Gefahr für Mitarbeitende und Patienten”, sagt Vizepräsident Walter Popp, Arzt für Innere Medizin, Arbeitsmedizin und Hygiene.
Auch unter Fachmedizinern stößt das Verfahren auf Unverständnis. “Ethanol ist in der Verwendung als Desinfektionsmittel, Arzneimittel und Medizinprodukt wirksam, sicher und unverzichtbar”, betont etwa Konstantin von Laffert, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer in einer Erklärung. Fläschchen mit Ethanol-Gemisch sind heute selbst in Drogerien erhältlich.
Alkoholgenuss erhöht das Krebsrisiko – das gilt laut zahlreichen Studien als gesichert. Die genaue Grenze lässt sich schwer ermitteln. In geringen Konzentrationen ist Alkohol selbst in alltäglichen Lebensmitteln wie Obst und Säften enthalten. Im Verdauungsprozess entstehen durch Vergärung im Darm außerdem auch bei gesunden Menschen kleinste Mengen Alkohol.
Bislang gibt es nach aktueller Forschung kaum Anhaltspunkte dafür, dass Krebserkrankungen schon durch Berührung oder Einatmen von Ethanol zunehmen. Laut Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) liegt die Aufnahme durch die Haut bei maximal zwei Prozent und ist damit im Vergleich zum Trinken von Alkohol “vernachlässigbar”.
Zwar könnten bei der Benutzung Symptome wie gereizte Augen oder Husten auftreten. Aber: “Diese sind vorübergehender Natur und enden, wenn die Aufnahme über die Atemluft nicht mehr gegeben ist”, sagt ein Sprecher des Bundesinstituts. “So hohe Konzentrationen in der Atemluft, dass die bekannten – und beim oralen Genuss “erwünschten” – Wirkungen von Ethanol auf das Nervensystem auftreten, sind bei sachgerechter Desinfektion inklusive guter Raumbelüftung nicht zu erwarten.”
Neben Ethanol kommen teilweise auch Propanol und Chlorhexidin als Desinfektionsmittel in Krankenhäusern zum Einsatz. Manche Erreger – etwa das Coronavirus – lassen sich mit alternativen Mitteln bekämpfen. Laut Gelber Liste Pharmaindex ist Ethanol aber zum Beispiel der einzige Wirkstoff, der gegen Erreger wie Polioviren oder Noroviren “umfassend wirkt”. Hygiene-Experte Popp bestätigt: “Bestimmte Viren bekämpft Ethanol effektiver als Propanol.”
Derzeit liegt auf EU-Ebene bereits eine Empfehlung vor, Ethanol als “reproduktionstoxisch” einzustufen und damit als schädlich für die Fortpflanzung und die Entwicklung von Embryos. Ärzteverbände warnen davor, dass weibliche medizinische Kräfte dann während einer Schwangerschaft aus juristischen Gründen nicht mehr arbeiten dürften. Eventuell, so die Befürchtung, könnte eine entsprechende Einstufung sogar ein Arbeitsverbot für alle Frauen im gebärfähigen Alter nach sich ziehen.
Einige Krankenhäuser schließen schwangere Frauen schon jetzt von chirurgischen Tätigkeiten aus. Die Folge: Der Personalmangel in Kliniken verschärft sich zeitweise noch mehr.
Die Beratung der ECHA läuft noch bis zum 28. April. Bis dahin sollen die Beteiligten mögliche Alternativen zu Ethanol ermitteln. Allein für die Einstufung von Ethanol als “reproduktionstoxisch” fehlen laut Ärzten allerdings nötige Studien.
Die Gelbe Liste befürchtet zudem Lieferengpässe: Innerhalb der EU, so die Begründung, produzieren beispielsweise nur fünf Hersteller Propanol – deutlich weniger als Ethanol. Das Bundesinstitut für Risikobewertung bringt verschiedene Ausnahmeregelungen ins Spiel: Das komme dann in Frage, wenn der Wirkstoff – wie im medizinischen Gebrauch – der “Gefahrenabwehr” diene. Oder: wenn der “Kontakt von Menschen mit dem Wirkstoff vernachlässigbar” sei.
Die politische EU-Entscheidung steht auch nach einer Bewertung der ECHA Ende April noch aus. Wie sie ausfällt, so ist von Medizinern zu hören, lasse sich bislang schwer voraussehen. “Bis dahin kann man nur Lobbyarbeit machen”, sagt Walter Popp.