Aufschreiben, wenn man traurig ist. Wovor man Angst hat und worüber man sich freut. In wen man sich verliebt hat und wieso man es hasst, in die Schule zu gehen. Dass man nicht weiß, wie das Leben weitergehen soll.
Sich innerlich sortieren, seine Gefühle ausdrücken, Probleme verarbeiten: Tagebuchschreiben kann ein Zufluchtsort sein. “Ich mache es gerne, weil ich meine Gedanken aufschreiben kann. Was mir auf dem Herzen liegt und was mir schwerfällt zu sagen”, sagt Justin, 18 Jahre alt. Er geht auf die Berufsbildende Schule im brandenburgischen Neuenhagen bei Berlin. Die Schule ist “ChangeWriters Schule”, eine von bundesweit 100 Einrichtungen, bei denen das Tagebuchschreiben in den Schulalltag integriert ist.
Lehrerin Irene Lange unterrichtet die Schülerinnen und Schüler, die sich hier vor dem Beginn ihrer Berufsausbildung ein Jahr orientieren können, zweimal pro Woche. An der Tür zum Klassenzimmer hängt ein Comic-Bild von Anne Frank. Das jüdische Mädchen machte vor 80 Jahren, am 1. August 1944, seinen letzten Eintrag im Tagebuch, bevor es von der Gestapo entdeckt und deportiert wurde. Wenige Monate später starb Anne mit 15 Jahren im Konzentrationslager.
Tagebuch-Einträge von Anne Frank ähneln sich im Kummer
Lange hat mit den Jugendlichen das Buch im Unterricht gelesen: “Die Erlebnisse von Anne Frank sind zwar unvergleichbar. Aber sie ist auch ein ganz normaler Teenager, ein Mädchen wie du und ich”, sagt die 44-Jährige. Auch nach so langer Zeit sei ihre Geschichte deshalb noch relevant: “Viele Einträge von Anne Frank damals und meinen Schülern heute ähneln sich im Kummer und in ihren Sorgen, beschreiben zum Beispiel Probleme in der Familie. Und genauso wie sie kämpfen sie mit der mangelnden Selbstwirksamkeit, was das eigene Leben betrifft.”
Anne Frank musste im Versteck ausharren und dieser Situation all ihre Lebenswünsche unterordnen. Und auch die Schülerinnen und Schüler von Irene Lange wissen, wie es ist, wenn man zurückstehen muss. Wenn die Bedingungen, in die man hineingeboren wurde, schwierig und schwer zu ändern sind.
Manche kommen von der Förderschule, andere sind im normalen Schulsystem gescheitert oder haben psychische Erkrankungen. Das Tagebuchschreiben helfe den jungen Menschen “Druck abzulassen, wenn sie sich unverstanden fühlen”, sagt die Pädagogin, eine von drei ausgebildeten “Freedom writers teacher” in Deutschland. Sie gehen auf die US-amerikanische Lehrerin Erin Gruwell zurück, die Mitte der 1990er Jahre eine Klasse “hoffnungsloser Fälle – harte Jungs aus dem Ghetto” – an einer Schule in Los Angeles unterrichtet hatte und mittels Tagebucharbeit Zugang zu ihnen fand. Daraus entstand der deutsche Verein “ChangeWriters”.
Tagebuch schreiben als Türöffner
“Ein Tagebuch kann auch ein Türöffner sein. Vor der Bildung kommt der Beziehungsaufbau”, sagt Lange. “Viele Dinge hätten mir die meisten Schüler nie erzählt.” Nach einer Umfrage der Stiftung Zukunftsfragen schreiben acht Prozent der Bundesbürger einmal pro Woche in ihr Tagebuch. Bei den Unter-30-Jährigen sind es mit 16 Prozent doppelt so viele. Gerade für die jüngere Generation ist es demnach ein “oftmals bewusst gewählter Kontrast zur Selbstdarstellung in sozialen Medien”. Und auch Lange schätzt am Tagebuchschreiben mit den Schülern, dass es “haptisch und nicht digital” ist.
Im Klassenzimmer der Berufsbildenden Schule stehen eine rote und eine grüne Kiste auf dem Tisch. In die rote Kiste kommen die Tagebücher, die Lehrerin Lange nicht lesen soll. In die grüne die Bücher, die sie lesen darf. “Morgen habe ich Geburtstag. Ich bin aufgeregt, aber ich habe auch Angst, was kommt”, hat etwa eine Schülerin geschrieben. Woanders heißt es: “Ich weiß nicht recht, wie ich mich fühle. Ich bin noch etwas in meiner Gedankenwelt.”
Lange reagiert bewertungsfrei auf das Geschriebene, klebt an den entsprechenden Stellen gelbe Klebis rein. “‘Ich danke’ zum Beispiel zeigt, dass ich das Vertrauen zu schätzen weiß. Es soll ja eine freiwillige und positive Schreiberfahrung sein.” Dabei geht es nur um den Inhalt, nicht um Grammatik und Rechtschreibung. “Mit Sechsen erreicht man niemanden”, sagt die Lehrerin, die Mutter von zwei Kindern ist.
“Meistens darf Frau Lange alles lesen”, sagt Chantal, 18 Jahre alt. Sie habe in ihr Tagebuch “die großen Dinge geschrieben, die ich erlebt habe”. Freundin Andela, 19 Jahre alt, sagt: “Ich schreibe vor allem meine Erinnerungen rein, die guten und die schlechten Sachen”.
Es sei “von allem was dabei”, sagt auch Lange – auch an den schönen Dingen könne sie so anteilnehmen, wie der Geburt eines Geschwisterchens zum Beispiel. “Es ist einfach gut zu wissen, wie es bei den Kindern zu Hause ist.” Sie weise die Schülerinnen und Schüler aber auch daraufhin, dass sie sich bewusst sein müssen, dass sie bei manchen Einträgen handeln muss – wenn auch nicht ohne Rücksprache mit den jeweiligen Jugendlichen.
Ein Tagebucheintrag kann ein Hilferuf sein
“Die Schüler schreiben ja in dem Bewusstsein rein, dass ich es lesen werde.” Irgendwann einmal notierte zum Beispiel jemand seinen Suizidgedanken. “So etwas kann ich natürlich nicht auf sich beruhen lassen, ich spreche die Schüler darauf an und ziehe dann einen Psychologen oder unsere Sozialarbeiterin hinzu”, sagt Lange.
Ein anderes Mal hatte eine Schülerin auch Dinge aufgeschrieben, “die in ihrer Familie passiert sind und so nicht sein dürfen”. Sie wurde daraufhin aus der Familie geholt. “Das sind aber zwei extreme Ausnahmefälle in Anbetracht der etwa 400 Tagebücher, die ich in den letzten Jahren lesen durfte”, betont die Lehrerin.
Misstrauisch, ob die Einträge der Wahrheit entsprechen, sei sie nicht: “Das habe ich noch nie erlebt, dass jemand bewusst Quatsch dort hineinschreibt. Und selbst, falls das so sein sollte: Wenn jemand solche Dinge erfindet, ist das ja auch ein Grund, der Sache nachzugehen.”
Justin möchte nicht erzählen oder gar in der Zeitung lesen, was aus seinem Leben er seinem Tagebuch anvertraut. Meist seien es “nicht so schöne Dinge”. Er habe aber auch positive Momente aufgeschrieben und vieles mit seiner Lehrerin besprochen. Man merkt, dass er sie mag: “Zu ihr kann ich ganz offen sein.”
Fünf Tipps zum Tagebuchschreiben
Tagebuchschreiben kann in vielerlei Hinsicht hilfreich sein – um die eigenen Gedanken zu sortieren, eine gesundheitliche Entwicklung besser nachvollziehen zu können oder einfach später in Erinnerungen zu schwelgen. Wer es ausprobieren möchte, für den hat der Theologe und Coach Olaf Georg Klein einige Tipps. Er hat ein Buch über das Tagebuchschreiben veröffentlicht.
- -Nicht zu viel wollen: Für den Anfang reichen ein Notizbuch oder eine Datei am Computer. Darin kann man Gedanken und Gefühle notieren, die einem durch den Kopf gehen – “und erstmal gar nichts damit machen”, sagt Klein.
- -Sich selbst überraschen: Wer nach ein paar Tagen, Wochen oder Monaten zurückblättert oder hochscrollt, wird feststellen, welches augenscheinlich wichtige Thema sich in Wohlgefallen aufgelöst hat.
Oder gibt es einen Wunsch, der immer wieder auftaucht? “Dann sollte ich ihm vielleicht doch einmal nachgehen”, rät der Experte. - -Ausprobieren: Wem es schwerfällt, einfach drauflos zu schreiben, der kann zum Beispiel einmal einen Dialog formulieren: zwischen sich selbst und dem Partner, zwischen Kopf und Herz – oder mit einem fiktiven Gegenüber. “Wer damit experimentiert, erlebt eine unglaubliche Freiheit”, sagt Klein.
- Eine Gewohnheit schaffen: Viele Sachen fallen leichter, wenn sie mit einem bestimmten Platz oder einer bestimmten Zeit verknüpft sind.
Das könne der heimische Lieblingssessel sein oder ein ruhiges Cafe auf dem Heimweg von der Arbeit, erklärt Klein. Manche schrieben lieber morgens im Ausblick auf den neuen Tag, andere zögen eher abends Bilanz. - Der Kreativität freien Lauf lassen: Wer mag, “nutzt ein schönes Buch und einen schönen Stift”. Kleins persönliche Erfahrung:
“Hilfreich ist ein weiterer Stift in einer zweiten Farbe, um Stellen zu kennzeichnen.” Auch könne man etwas malen, ein Erinnerungsstück einkleben, bedenkenswerte Aussprüche oder Zitate notieren.