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Vor allem mehr junge Leute leben digital enthaltsam

Immer mehr junge Menschen versuchen, ihre Bildschirmzeit zu verringern. Dabei helfen digitale Tools – und die Renaissance eines längst vergessen geglaubten Kult-Handys.

An der Bushaltestelle geht der Griff – ohne groß darüber nachzudenken – in die Hosentasche. Das darin befindliche Smartphone verspricht Zerstreuung, Zeitvertreib, Neuigkeiten. Auch Menschen, die sich nicht als digitale Intensivnutzer betrachten würden, kommen mittlerweile auf beträchtliche tägliche Bildschirmzeiten, weil sie mit Smartphone und sozialen Netzwerken Pausen füllen. Nicht selten fragen sich Nutzer später allerdings auch, was sie mit der Zeit stattdessen hätten anfangen können.

Apps und Plattformen binden Nutzer bewusst – bunte Farben, Inhalte, die zum Weiterscrollen einladen oder Push-Benachrichtigungen sind nur einige Design-Entscheidungen. Zugleich berichten immer mehr Menschen von digitaler Müdigkeit, wünschen sich weniger Mediennutzung.

Langfristige Erhebungen, ob die Nutzungszeit bestimmter Gruppen tatsächlich sinken könnte, dürften noch eher selten sein, berichtet Stephan Humer, Professor für Internetsoziologie an der Hochschule Fresenius in Berlin. Es gebe aber aktuell viele Menschen, die mit weniger Mediennutzung experimentieren würden: “Eine Beratungsagentur hat schon vor einiger Zeit herausgefunden, dass in manchen Ländern jedes zehnte Gerät, das genutzt wird, kein Smartphone ist.”

Im Unterschied zu Smartphones, die eine Vielzahl an technischen Möglichkeiten bieten, setzen manche Menschen gezielt auf “Dumb Phones”, also “Dumme Handys”. Nokia kündigte beispielsweise an, das legendäre Modell 3210 aus dem Jahr 1999, damals vor allem für seine Kompaktheit und Robustheit geschätzt, neu aufzulegen. Die moderne Variante bewirbt Nokia mit dem Slogan “Keine Apps. Kein Ärger.” Auch andere Anbieter haben mittlerweile wieder Geräte im Angebot, die außer Telefonieren und SMS nicht viel können.

Das schätzen Menschen, die ihren Medienkonsum und die permanente Erreichbarkeit etwas herunterschrauben wollen. Einen Massentrend will Humer aber noch nicht erkennen: “Ich vermute derzeit, dass es in eine ähnliche Richtung geht wie mit Musik und Schallplatten: ein kleiner, harter Kern, der sagt, für uns ist das eine klare Option.”

Für viele überraschend: Verstärkt tauche das Phänomen der digitalen Enthaltsamkeit bei jüngeren Menschen auf, so der Soziologe. “Viele haben das Gefühl, dass sie die Online-Angebote jetzt auch ein Stück weit durchgespielt haben. Sie kennen es, sie wissen, was es ist, und können ihre Nutzung dann genauer dosieren und ein bisschen herunterdimmen.”

Bei Menschen im mittleren Alter gehe es vor allem darum, nicht mehr jeden Trend mitzumachen: “Viele haben hier einen strategischeren Umgang mit Medien, weil sie beispielsweise auch gelernt haben, ihre berufliche Kommunikation nach Feierabend einzuschränken.” Sie entscheiden sich Humer zufolge eher für eine Art Haupt-Plattform, die sie vorwiegend nutzen, und lassen andere Angebote links liegen. Wer älter als 60 oder 65 Jahre ist, sei dagegen oftmals noch damit beschäftigt, sich das Netz in all seiner Vielfalt zu erobern.

Den meisten Menschen, die ihre Internetnutzung einschränken wollen, gehe es zunächst einmal um Soziale Medien, so Humer: “Es fing damit an, dass man nicht mehr immer alles fotografieren und posten wollte, nicht immer auf alles reagieren und immer hier und da noch ein Herzchen verteilen wollte.” Wer seinen Verzicht mit einem Dumb Phone übt, könne aber noch zu ganz anderen Erkenntnissen kommen: “Man merkt dann schnell, dass man auch gar nicht mehr mit E-Mails oder bei irgendwelchen Messengern zugespamt wird und viel mehr Ruhe hat, um ein Buch zu lesen oder einfach mal durch den Park zu spazieren.” Erreichbarkeit sei ja weiterhin gegeben, aber eben in einer deutlich reduzierten Variante.

Interessant sei das auch für Menschen, die nicht wollen, dass ihr Verhalten permanent getrackt werde, sagt Humer. Apps sind nämlich für die dahinter steckenden Unternehmen in erster Linie Datensammler, die möglichst viele Informationen über ihre Nutzer speichern, auswerten und weiterverkaufen – für viele kostenlose Apps das einzige Geschäftsmodell neben Werbung.

Idealerweise, rät Humer, müsse man sich die Frage stellen, ob man jeden Trend ausprobiert, den das Smartphone bietet, oder ob man auf manches verzichtet und mit den Konsequenzen lebt: “Ich wohne in Berlin. Wenn ich die Mobilität hier komplett ausnutzen will, brauche ich eine App für Carsharing, für Taxi, für Uber und diese ganzen Geschichten. Ich kann auch sagen, dass ich ein Ticket für Bus und Bahn habe und alles andere außen vor lasse.”

Allerdings wird auch die Nutzung von Bus und Bahn ohne Smartphone schwieriger. Nicht nur, dass aktuelle Fahrplanangebote zunehmend nur noch digital verfügbar sind – auch die Fahrscheine, allen voran das Deutschland-Ticket und die Bahn-Card, werden fast ausschließlich digital ausgestellt. Ein Dumb Phone hilft hier nicht weiter.

Wer aus diesem oder anderen Gründen nicht ganz auf ein Smartphone verzichten will, dem könnten – ironischerweise – digitale Tools helfen, um den eigenen Internetkonsum in den Griff zu bekommen: Nutzer können sich selbst Zeitbegrenzungen geben oder sich detaillierter über ihre Nutzung informieren. Die App “One Sec” zwingt Nutzer beispielsweise, einige Sekunden zu warten, bevor eine App geöffnet werden kann. Der unbewusste Griff in die Hosentasche, um die Wartezeit auf den Bus zu verkürzen, ist dann gar nicht mehr so unbewusst.