Der Hörsaal platzte aus allen Nähten. Fast 900 Jungen und Mädchen im Alter zwischen neun und zwölf Jahren drängten sich dort, wo sonst die Studierenden sitzen. Kinder-Uni an der Hochschule in Hamburg, und das Thema der Psychologin Nina Krüger stieß auf großes Interesse: „Wer von euch hat heute schon gelogen?“, fragte sie. Zaghaft gingen Kinderarme in die Höhe. Nur bei den Eltern in den letzten Reihen regte sich keine Hand: Die Erwachsenen fühlten sich sicherheitshalber nicht angesprochen – denn Lügen gibt keiner gerne zu.
Keiner gibt gerne zu, dass er gelegentlich lügt
Die Lüge gilt als verwerflich: „Lügen haben kurze Beine“. Oder: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“, heißt es. Egoistische Lügen zerstören Vertrauen und können Partnerschaften gefährden.
Aber die kleinen Lügen gehören zum Alltag: Fast jeden Tag wird ein bisschen geschwindelt. Es gibt durchaus Flunkereien, die Streit und Konflikt vermeiden, und dem Gegenüber mehr nutzen als schaden, erklärt Krüger: „Dann spricht die Wissenschaft von ‚weißen Lügen‘.“ Solche Unwahrheiten „mit positiven Folgen“ für einen anderen erleichterten das Zusammenleben.
Sie kommen dabei häufig vor – etwa wenn der Ehemann sagt, dass ihm das Kleid seiner Frau gefällt, obwohl er es eigentlich scheußlich findet. Oder wenn man beteuert, dass einem das Essen schmeckt, obwohl es versalzen ist. „Durch diese Lügen sollen andere nicht verletzt werden“, erklärt Krüger.
„Schwarze Lügen“ verschaffen dem Lügner dagegen einen Vorteil, etwa durch falsche Angaben bei der Steuererklärung. Während „blaue Lügen“ anderen Menschen helfen sollen, zum Beispiel wenn Schüler nicht verraten, wer das Graffiti an die Schulwand gemalt hat – auch wenn sie „den Täter“ kennen.
So definiert lügt jeder tagaus, tagein. Im Internet findet sich häufig die Angabe bis zu 200 Mal täglich, genau belegt wird das nicht. Zwei Mal am Tag dürfte realistischer sein: Auf diese durchschnittliche Zahl kam ein Forscherteam aus Deutschland, Belgien, den USA und den Niederlanden. Es fragte mehr als 1000 Menschen in Amsterdam, wie oft sie in den letzten 24 Stunden gelogen hätten – eine „ehrliche Antwort“ wurde angemahnt.
Die Studie „Vom Junior- zum Senior-Pinocchio“, die im vergangenen Jahr einen Preis für kuriose Forschung erhielt, ging der Frage nach, in welchem Alter das Lügen besonders verbreitet ist. „Unser Ergebnis war, dass Kinder und ältere Erwachsene seltener lügen und auch mehr Mühe haben beim Lügen als junge Erwachsene“, erklärt die Psychologin Kristina Suchotzki von der Uni Würzburg, die an der Arbeit beteiligt war.
Die Erklärung: Lügen erfordern ein sehr komplexes Verhalten. Wer auf etwas antwortet, denkt erst an die Wahrheit. Um zu lügen, muss diese verschwiegen und eine glaubhafte Alternative entwickelt werden.Das können der Studie zufolge Kinder noch nicht so gut. Um im Alter lässt diese Fähigkeit offenbar wieder nach, so zumindest das Resultat der Untersuchung in den Niederlanden.
In Deutschland veröffentlichte die Agentur myMarktforschung 2016 eine Umfrage unter 1024 Teilnehmern. Dabei gaben fast 60 Prozent der Deutschen zu, täglich mindestens einmal die Unwahrheit zu sagen – meist aus ehrenwerten Gründen: 49 Prozent lügen demnach, um andere aufzumuntern oder ihnen eine Freude zu bereiten, 40 Prozent täuschen Fleiß oder Engagement vor, 37 Prozent wollen Trost spenden.
„Schwarze“ – also eigennützige – Lügen werden weit weniger zugegeben. Nur 22 Prozent erklärten, durch falsche Angaben fremde Leistungen als eigene auszugeben. Oder bei der Bewerbung mit Fähigkeiten zu schummeln. Dass solche egoistischen Lügen verwerflich sind, steht schon in der Heiligen Schrift. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, heißt es in der Bibel im achten Gebot, das allgemein als „Lügenverbot“ interpretiert wird.