„Mehr Inklusion auf dem Arbeitsmarkt“, heißt es immer. Trotzdem arbeiten Menschen mit Behinderung oftmals in speziellen Werkstätten und bleiben dabei unter sich. Es geht auch anders, wie die Aktion „Schichtwechsel“ zeigt.
Hanau. Vorsichtig schiebt Sandra die Pizza in den großen Steinofen. „Ganz schön heiß“, ruft sie und wedelt sich mit ihren Händen Luft zu. Die junge Frau hilft heute zum ersten Mal in der Gastronomie aus – im Seecafé in Hanau. Normalerweise arbeitet die 36-Jährige in einer Einrichtung des Behinderten-Werks Main-Kinzig im nahe gelegenen Langenselbold.
So viele Firmen beteiligt wie nie zuvor
Dort sortiert sie Schrauben, wie die lebensfrohe Frau erzählt: „Das heute ist was ganz anderes!“, sagt sie und lässt sich von einem der Köche zeigen, wie sie die fertig gebackene Pizza am besten schneidet.
In der Küche des Seecafés hat Sandra heute bereits Besteck geordnet und den Servicekräften über die Schulter geschaut. „Das macht Spaß und die Zeit geht schnell rum“, sagt sie in der Pause zu ihrer Tauschpartnerin Maria Treinen.
Beide machen mit bei der 2019 gestarteten Aktion „Schichtwechsel“. Für einen Tag lang lernen Mitarbeitende aus Unternehmen deutschlandweit den Arbeitsalltag in Werkstätten für behinderte Menschen kennen und umgekehrt. In diesem Jahr haben sich nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen so viele Firmen wie noch nie beteiligt.
„Wir wollen einen Perspektivwechsel ermöglichen und Vorurteile abbauen“, erklärt Martin Berg, Vorstandsvorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft und des Behinderten-Werks Main-Kinzig. Beide Seiten sollen den Arbeitsalltag mit seinen Vorzügen aber auch Schwierigkeiten kennenlernen.
Die erlebt Maria Treinen schon bei einer ihrer ersten Aufgaben in der Metallwerkstatt, die nur wenige Meter vom Seecafé entfernt liegt. Die 23-Jährige hantiert mit Schrauben, die für Auto-Ersatzteile gebraucht werden. „Ops, jetzt hab ich was falsch gemacht“, murmelt die Kellnerin und lacht. Ein Mitarbeiter ist sofort zur Stelle und setzt die Schraube mit einem gekonnten Griff wieder richtig ein. „Ich finde das beeindruckend, wie Leute, die zum Beispiel eine Sehschwäche haben, nur durch Tasten und Fühlen das hier alles hinkriegen“, sagt Maria, während sie langsam den Dreh raus hat mit den Schrauben.
Manchmal werden Werkstattmitarbeitende auf den regulären Arbeitsmarkt vermittelt, wie Martin Berg berichtet. „Um der Wahrheit gerecht zu werden, muss man sagen: Es sind nur wenige.“
Verständnis für die Arbeit behinderter Menschen
Die Werkstätten seien bemüht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern. „In vielen Unternehmen sind die Arbeitsprozesse schneller, alles ist mehr nach Leistung orientiert“, sagt Berg. Der Druck sei oft so groß, dass zunehmend Menschen den Anforderungen nicht mehr gerecht werden könnten.
Vorstandsvorsitzender Berg wehrt sich gegen die Kritik an den etwa 700 Werkstätten in Deutschland, die Menschen würden ausgebeutet, abgeschottet, schlecht bezahlt. Im Durchschnitt verdienen die Mitarbeitenden dort um die 220 Euro im Monat. Erst vor wenigen Wochen war in den sozialen Medien erneut eine Diskussion aufgeflammt. Unter dem Hashtag „#IhrBeutetUnsAus“ machten Betroffene ihrem Ärger Luft. Auf Internetseiten wie JOBinklusive.org fordern Aktivistinnen und Aktivisten neben dem gesetzlichen Mindestlohn finanzielle Anreize für erfolgreiche Vermittlungen von Werkstattbeschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft setzt sich nach eigenen Angaben für eine Gesetzesänderung bei dem Entgeltsystem für Werkstattbeschäftigte ein. Inklusion sei nicht nur Aufgabe von Werkstätten und Politik, betont Berg. Mit dem „Schichtwechsel“ möchten seine Kolleginnen und Kollegen Aufmerksamkeit erzeugen. „Es braucht mehr Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderung einstellen.“
Viele Arbeitgeber tun zu wenig für die Inklusion
Das fordern auch mehrere Initiativen immer wieder. Viele Arbeitgeber scheuten die Einstellung von Arbeitskräften mit Handicap, berichtet etwa die Aktion Mensch. Im Sommer dieses Jahres seien trotz Fachkräftemangels mehr als 160 000 schwerbehinderte Menschen in Deutschland arbeitslos gemeldet gewesen. Zwar seien Betriebe mit mindestens 20 Angestellten verpflichtet, auch Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, aber viele würden dies nicht tun und stattdessen lieber eine Ausgleichsabgabe zahlen.
Das Team vom Seecafé arbeitet schon länger mit behinderten Menschen zusammen, erzählt Maria, als sie mit Sandra auf ihren Tausch-Tag zurückblickt. „Wir haben einen Kollegen mit Autismus eingestellt und der macht seinen Job super“, berichtet die Hanauerin stolz. „Er wird behandelt wie jeder andere und kriegt keine Extra-Wurst. Das tut ihm und uns gut.“ Sandra und sie möchten auf jeden Fall in Kontakt bleiben und prosten sich mit einem Kakao zu.