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Vom Machtaccessoire zum Mode-Relikt

Es begann im 17. Jahrhundert, am Hof von Versailles: Kroatische Söldner banden sich farbige Halstücher um – „Cravates“ genannt. König Ludwig XIV. war so begeistert, dass die Krawatte zum modischen Muss avancierte. Über Jahrhunderte entwickelte sie sich weiter – vom breiten Seidenstrang der Wiener Moderne bis zum schmalen, dezenten Schlips im New Yorker Bankenturm.

Doch die Ära, in der der Binder für den Mann von Welt unverzichtbar war, ist lange vorbei. Die Zahlen sagen alles: Laut Handelsverband Deutschland halbierte sich der Krawatten-Umsatz zwischen 2010 und 2023 auf rund zwölf Millionen Euro. Die Verkaufsmenge schrumpfte von mehr als 20 Millionen Anfang der 2000er-Jahre auf nur noch gut eine Million 2023. „Die Krawatte ist im Büro weitgehend aus der Pflicht genommen worden“, sagt eine Sprecherin des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie.

International das gleiche Bild: In Großbritannien brach seit 2015 der Umsatz mit Krawatten um mehr als 70 Prozent ein. Die britische Zeitung The Guardian befand jüngst: „The Death of the Tie“ (der Tod der Krawatte). Selbst im traditionsreichen Parlament weicht die Krawatte zunehmend lockeren Dresscodes.

Für die Krawattenbranche ist die neue Lockerheit ein Problem. Inzwischen haben viele Hersteller ihr Sortiment radikal abgespeckt. Die Krawatte bleibe zwar „Teil unseres Accessoire-Angebots“, sagt eine Sprecherin des Modeherstellers Boss im schwäbischen Metzingen dem Evangelischen Pressedienst (epd). Aber der Trend gehe klar „zur Casualisierung in der Mode“.

Wie gehen die Herren mit den neuen Freiheiten um? „Politiker und Nachrichtensprecher verzichten heutzutage bewusst auf die Krawatte, um offener und nahbarer zu wirken“, erklärt Stilberaterin Marion Ising aus Freudenberg bei Siegen. Das signalisiere Flexibilität. Ganz verschwunden ist die Krawatte aber noch nicht aus den Studios der Nachrichtensendungen.

Der Beratungsbedarf in Modefragen sei seit der Corona-Pandemie gestiegen, sagt Ising: Homeoffice und Lockdowns hätten vieles auf den Kopf gestellt. „Viele sind verunsichert. Mein Tipp: Im Zweifel lieber etwas souveräner kleiden als zu leger.“

„Kleider machen Leute“, sagt auch Bernhard Roetzel, Autor der in 18 Sprachen übersetzten Stilbibel „Der Gentleman“. Für ihn ist Mode mehr als eine Frage des Trends: „Sich gut zu kleiden zeugt von Wertschätzung – für sich selbst und das Gegenüber.“ Für Roetzel bleibt die Krawatte ein Klassiker, der in jede gute Garderobe gehört.

Als Trendaccessoire taucht sie immer wieder mal auf den Laufstegen auf – für Männer wie Frauen. Aber was tun, wenn das gute Stück gar nicht mehr gebraucht wird? Die Antwort: Upcycling. Kreative verwandeln Krawatten in Gürtel, Taschen, Tischläufer oder Haarbänder. Die individuellen Muster und edlen Stoffe machen jedes Produkt zu einem Unikat.

Ob am Hals oder als Wohnaccessoire – die Zeit als Machtzeichen hat die Krawatte hinter sich. Doch als Stoff voller Charakter und Individualität wird sie wohl Teil des Mode-Lebens bleiben. (2192/14.10.2025)