Es gibt nur wenig im Alltag, das wir ähnlich fürchten und in das wir uns dennoch so schicksalsergeben dreinfinden wie – den Stau. Der Fluch hat fast schon etwas Biblisches: Die Schlange verleidet uns das Paradies. Und dennoch wollen wir unbedingt dorthin. Mit jedem Ferienbeginn begeben wir uns in eine Blechkarawane, wohl wissend, dass der Stop-and-Go-Verkehr unsere Urlaubslaune verdirbt. Zur Hauptreisezeit wälzt sich laut ADAC-Messung eine Blechlawine von insgesamt 13 850 Kilometern Länge die deutschen Autobahnen entlang.
Stauursache ist nicht nur hohes Verkehrsaufkommen
Das müsste eigentlich zusammenschweißen. Doch weit gefehlt. Wenn Blicke töten könnten – so mancher Fahrer eines Unfallwagens wäre dann schon gestorben. Dabei haben die Gaffer, die an ihm im Schneckentempo vorbeifahren und ihn zur Hölle wünschen, gar nicht im Blick, dass sie es letztlich sind, die wesentlich zur Verlängerung des Staus beitragen. Denn nicht das hohe Verkehrsaufkommen ist alleiniger Stauverursacher, sondern menschliches Versagen. Bekannt ist das schon seit 1992, als die Physiker Michael Schreckenberger und Kai Nagel in Köln in ihrem Stauberechnungsmodell den sogenannten Schmetterlings-Effekt entdeckten.
Sie wiesen nach, dass gerade mal 50 Prozent der Verkehrsstaus durch Hindernisse wie Baustellen, Unfälle oder Pannen entstehen. Die anderen 50 Prozent verursacht das Verhal-ten der Fahrer. Sobald sich eine Lücke zum Vordermann auftut, drücken sie aufs Gas, um den Abstand zu verringern, und bremsen kurz darauf wieder.
Dabei müsste ihnen von der „Grünen Welle“-Ampelschaltung klar sein, dass nur bei gleichbleibender Fahrgeschwindigkeit, die Signalanlage nicht auf Rot umschaltet. Ein Quäntchen Rechenkunst dürfte reichen, um zu wissen, dass sich mit jedem weiteren Wagen in der Schlange die Wartezeit potenziert. Zu dichtes Auffahren, abruptes Abbremsen, Spurwechsel und Kolonnenspringen sowie das An- und Abschalten des Motors bei Stillstand verdichten sich nach dem Prinzip der Selbstverstärkung zu immer längeren Verzögerungen. Schreckenberger und Nagel konnten so auch die sogenannten Staus aus dem Nichts erklären, die sich vorne längst aufgelöst haben und hinten die Wagen zum Stehen bringen.
Grundsätzlich gilt: Jeder Stau entspringt einem Kapazitätsproblem. Eine Straße ist ausgelastet, wenn sich 1500 bis 2500 Fahrzeuge pro Stunde und Spur mit 80 bis 100 Kilometern bewegen. Schnelleres oder langsameres Fahren verringert die Kapazität. An der Staubekämpfung scheiden sich die verkehrspolitischen Ideologien. Im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie wird es zur Grundsatzdebatte, ob ein Ausbau des Straßennetzes Abhilfe schaffen kann. Der Verkehrswirtschaftler Martin Randelhoff stellte in seiner Untersuchung „Zukunft Mobilität“ fest: „Nur kurzfristig hilft der Ausbau von Straßen. Die Nachfrage passt sich rasend schnell dem Angebot an.“
Ebenso wenig bringt es etwas, den Stau zu umfahren. Längst ist erwiesen: Wenn nur jeder zehnte Wagen bei Stau die Autobahn verlässt, staut es sich schon auf der Entlastungsstraße. Randelhoff hält fest: „Am schnellsten kommt voran, wer stur auf der Autobahn bleibt und sich dem Fahrfluss anpasst.“ Stoiker nennt der Forscher diese Gruppe.
Hobby: in den Stau fahren, um Kontakte zu knüpfen?
Bleibt eine philosophische Fragestellung: Wollen wir den Stau insgeheim gar nicht missen? Wären wir sonst so beratungsresistent? Im Stau bricht sich unsere angestaute Wut gegen alles und jeden freie Bahn. Je stickiger die Atmosphäre, desto mehr verschaffen wir uns Luft. Die Autobahnmeisterei, der in der Ferienzeit einfällt, die Leitplanken zu säubern oder die Fahrbahnmarkierung neu zu weißeln, wird als unfähige Länderbürokratie verschrien. Und gebaut wird auf Autobahnen ohnehin stets zur falschen Zeit.
Auf einem Privatsender bekannte sich unlängst ein junger Mann aus der Nähe von Halle, es sei sein Hobby geworden, mit seinem Wagen in den Stau zu fahren, um mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen: „Wenn sonst schon nix läuft, gehen hier wenigstens die Emotionen ab“, sagte der Staubegleiter grinsend in die Kamera. Die Psychologie hat dafür ein stauaffines Wort: Aggressionsabfuhr.