1.400 Euro Rente monatlich: In schweren Fällen entschädigt die Unfallversicherung auch Missbrauchsbetroffene aus dem Bereich der Kirchen in dieser Höhe. Sie hat inzwischen hunderte Fälle auf dem Tisch.
Es ist ein hoch emotionales Thema für Menschen, die im Bereich der Kirche sexuellen Missbrauch erfahren haben: die Frage nach einer finanziellen Entschädigung. Häufig empfinden Betroffene die freiwilligen kirchlichen Zahlungen in Anerkennung des Leids als zu niedrig. Manche versuchen dann, sich trotz großer Hürden vor Gericht ein Schmerzensgeld zu erkämpfen. Neben diesen beiden Formen einer materiellen Wiedergutmachung gewinnt für einen Teil der Opfer ein dritter Weg zunehmend an Bedeutung: Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Vor drei Jahren hatte die in Hamburg ansässige Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) öffentlich auf den Rechtsanspruch auf die Versicherungsleistung hingewiesen – und inzwischen hat sie Opfern zwei Millionen Euro an Sach- und Geldleistungen zuerkannt. Die VBG ist der zuständige Unfallversicherungsträger für die Kirchen – und zwar nicht nur für deren hauptberuflich Beschäftigte, sondern auch für die dort ehrenamtlich Tätigen. Wenn also ein Ministrant oder Jugendleiter bei der Ausübung des ehrenamtlichen Dienstes missbraucht wurde, kann dieser “Arbeitsunfall” ein Fall für die Versicherung sein. Wenn die Voraussetzungen stimmen, übernimmt sie Kosten für Heilbehandlungen, Maßnahmen zur Teilhabe am sozialen und Arbeitsleben und – je nach Schwere der Folgen – auch lebenslange Renten oder fortlaufende Sach- und Dienstleistungen.
Der VBG wurden nach eigenen Angaben mittlerweile rund 750 Fälle gemeldet. 150 davon haben Betroffene angezeigt, den größten Anteil – 600 – haben die Kirchen selbst gemeldet. Denn dazu sind sie als “Unternehmer” gesetzlich verpflichtet, sofern die Betroffenen zustimmen. Von diesen 750 Fällen hat die VBG mehr als die Hälfte abgeschlossen – und dabei rund 140 Missbrauchsfälle anerkannt. In jedem fünften dieser Fälle wird eine Rente von bis zu 1.400 Euro monatlich gezahlt. Immerhin: Bei einem 15-jährigen Rentenbezug von 1.400 Euro summiert sich die Zahlung an ein Opfer auf rund 250.000 Euro.
Dann sind die Kirchen ja “fein raus”, wenn die Versicherungen zahlen – könnte man glauben. Doch dem ist nicht so, wie jüngst offenbar wurde. Die VBG bestätigte einen Bericht der Tageszeitung “Westfälischer Anzeiger”, wonach sie sich bei den Kirchen Geld zurückholt. Begründet werden die Regressforderungen mit den Grundsätzen der Amtshaftung, wie sie im Grundgesetz, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Sozialgesetzbuch niedergelegt sind. Mittlerweile wurden laut der Zeitung 16 Regressverfahren eingeleitet. Gegen welche Bistümer oder Landeskirchen sie sich richten, ist offen. Zu den laufenden – bisher außergerichtlichen – Verfahren will sich die VBG nicht äußern.
Missbrauchsbetroffene kommen über die Versicherung aber nicht unbedingt leichter an Zahlungen heran. Im freiwilligen System der Kirche müssen sie das Gewaltgeschehen lediglich plausibel darlegen. Vor Gericht gelten demgegenüber höhere Hürden: In Schmerzensgeldprozessen sind die Taten zu beweisen. Und: Bistümer müssen darauf verzichten, Verjährung geltend zu machen, damit es zur Verhandlung der oft lange zurückliegenden Geschehnisse kommen kann. Bei der VBG können zwar jahrzehntelang zurückliegende Fälle gemeldet werden, aber auch sie erhebt Anforderungen an die Beweisführung und prüft jeden Einzelfall im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nach rechtlich verbindlichen Kriterien – und zwar “auf Basis medizinischer Befunde, Zeugenaussagen und weiterer Erkenntnisse”. Und das geht für Betroffene häufig negativ aus: Den rund 140 bisher anerkannten Fällen stehen denn auch circa 235 ablehnende Bescheide gegenüber.
Manche Bedingung, die die Unfallversicherung für eine Zahlung formuliert, erinnert an Einlassungen von Richtern in Schmerzensgeldprozessen. Zwar ist ein Ministrant laut VBG nicht nur bei der Ausgestaltung eines Gottesdienstes versichert, sondern auch etwa bei Nachbesprechungen im Pfarrhaus. Ein innerer Zusammenhang zur Ehrenamtstätigkeit sei aber nicht gegeben, wenn die Missbrauchstat bei einem privaten Zusammentreffen erfolge, beispielsweise wenn der Pfarrer mit den befreundeten Eltern Urlaub mache. In ähnlicher Weise hatte das Landgericht Aachen eine Schmerzensgeldforderung abgewiesen: Dabei ging es um den Missbrauch eines 17-Jährigen durch einen als Religionslehrer tätigen Kaplan. Die sexualisierte Gewalt habe, so das Gericht, während einer privaten Nachhilfestunde stattgefunden – und ein Zusammenhang zur kirchlichen Tätigkeit des Geistlichen nicht bestanden.