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Verrückt nach vergessenen Kräutern: Ernten für die Spitzengastronomie

Auf dem Acker von Marko Seibold bei Bremen wachsen alte Kräuter- und Gemüsesorten scheinbar chaotisch durcheinander. Er lässt die Natur machen – und es entstehen Aromen, die Gourmet-Köche begeistern.

Gemüsegärtner Marko Seibold in Henstedt bei Bremen bewirtschaftet auf 2,5ha Feldfrüchte und Wildkräuter
Gemüsegärtner Marko Seibold in Henstedt bei Bremen bewirtschaftet auf 2,5ha Feldfrüchte und Wildkräuterepd / Kay Michalak

Die ersten Sonnenstrahlen tauchen den Horizont in rötlich-goldenes Licht. Doch noch liegt die Kühle der Nacht über dem Kräuter- und Gemüsefeld von Marko Seibold in Henstedt bei Bremen. Der Tau funkelt auf den Blättern. Das ist genau die richtige Zeit für den Gemüse- und Kräutergärtner, um mit einem kleinen Messer filigrane Spitzen zu ernten, Stück für Stück: junge Triebe von Vogelmiere und Schafgarbe, wilden Chrysanthemen und Storchschnabel, Schlangenlauch und Dost. Seine Kunden sind Spitzenköche in ganz Deutschland.

Kräuter am besten morgens schneiden

Was er schneidet, kommt kurz in einen Eimer mit kühlem Wasser. „Damit die Pflanzen keinen Schock kriegen“, sagt der gebürtige Schwabe und erklärt, warum er in aller Herrgottsfrüh auf seinem „Oberagger“ oberhalb seines Hofes steht. „Bei Sonnenaufgang ist der Zelldruck in den Pflanzen am höchsten, dann sind die Kräuter viel saftiger und aromatischer“, beschreibt der 52-Jährige seine „kleinen Pappenheimer“. Anders ist es, wenn es darum geht, Blüten zu schneiden: „Am besten zwischen 12 und 14 Uhr. Dann sind die Nektarien offen und es duftet ganz wunderbar.“

Gemüsegärtner Marko Seibold beim Ernten im Sonnenaufgang
Gemüsegärtner Marko Seibold beim Ernten im Sonnenaufgangepd / Kay Michalak

Die Pappenheimer, das sind die Pflanzen auf seinem Feld, die dort in einem Reichtum gedeihen, wie man ihn in Deutschland auf einem Acker nur noch selten zu Gesicht bekommt. Es ist eine Schatzkammer mit Gewächsen, deren Namen den meisten Menschen heute wohl nicht mehr geläufig sein dürften. Magenta Spreen zum Beispiel, zu Deutsch Baumspinat, der kunstvoll gefiederte Ackerkerbel oder – wie heißt das nochmal? – ach ja, richtig: Mädesüß. Eine Staude, die zu den heiligen Pflanzen der keltischen Druiden gehörte, mit zartem Vanille- und Mandelaroma.

Er kriecht förmlich in seinen Acker

Seibold erntet auf Bestellung. Er kriecht dabei förmlich in seinen Acker, wird eins mit dem Grün um ihn herum. Heute Morgen unter anderem für das „Canova“ in Bremen, dessen Koch Marius Ries mit den Kräutern des Gemüsegärtners noch am selben Tag einen mehrstündigen „Amuse Bouche“-Abend adeln will. Wobei Amuse Bouche für Mundfreude steht. Und genau das ist es, was Seibold liefern will, auch seinem Stammkunden Ries.

Der Bremer gehört zu den Gastronomen in ganz Deutschland, die begeistert sind von dem, was auf dem kleinen Bio-Hof in Henstedt geerntet wird: seltene Wildkräuter, Gemüse- und Feldfruchtspezialitäten. Es sind vergessene Genüsse in einer ungeahnten Vielfalt. „Wenn wir die Ware kriegen, ist das wie Weihnachten“, schwärmt Ries. Darunter sind Blättchen mit Aromen, die sanft die Geschmacksknospen streicheln, manchmal aber auch auf der Zunge explodieren. Und dazu noch dekorativ aussehen und viel für die Gesundheit tun.

Auf dem Acker von Marko Seibold wachsen alte Kräuter- und Gemüsesorten, von denen die meisten Zeitgenossen noch nie etwas gehört haben
Auf dem Acker von Marko Seibold wachsen alte Kräuter- und Gemüsesorten, von denen die meisten Zeitgenossen noch nie etwas gehört habenepd / Kay Michalak

Der Gewürz-Fenchel zum Beispiel, Anis auf der Zunge, „mit Wumms“, beschreibt es Seibold. Sanfter kommen die Blütenköpfe des Spitzwegerich daher, die im Geschmack an Champignons erinnern. Jetzt, nach Wochen der Trockenheit mit noch mehr Essenz und mit einer höheren Bitternote als sonst. Oder die ursprüngliche Zaunerbse, die nach Erdnüssen schmeckt.

Und zwischendurch freut sich der Bioland-Gärtner Seibold – „Hurra“ – wie ein Kind über das Heupferdchen, das sich im Knollen-Ziest versteckt. Überhaupt gibt es hier auf jedem Quadratmeter etwas zu entdecken, nichts ist so gerade und monoton wie das Weizenfeld nebenan.

Andere Bauern sehen Seibolds Scholle als Chaosacker, Laien fällt es schwer, den Reichtum im Boden überhaupt zu identifizieren. Aber Seibold hat einen anderen Blick, er lässt die Natur machen, mit Neugier und Geduld. „Das Feld ist ein Künstler“, meint er und fragt mit einem Lächeln: „Wer hat gesagt, dass ein Beet grad sein muss?“

Dünger gibt’s nicht

Gewässert wird bei ihm nur in Notsituationen, und dann auch nur das Gemüse. Dünger gibt’s nicht. Schwere Maschinen kommen bei ihm nicht auf den Acker, damit der Boden nicht verdichtet und dadurch in seiner Produktivität beeinträchtigt wird. Wenn er etwas sät, dann mit eigenem Saatgut oder mit Bio-Saatgut. Es sind meist alte Saaten, die besonders für vergessene Genüsse stehen. Etliches kommt von selbst. Seibold spricht da manchmal von „Flüchtlingen“, die zu ihm geflogen seien, „weil sie woanders totgespritzt werden“.

Frisch verpackt landet seine Ware per Overnight-Express am nächsten Tag in den Küchen, dort, wo Kräuter kein Chichi sind, sondern Hauptdarsteller. „Die Köche müssen sich auf Geschmäcker und Aromen einlassen, wo man gar nicht mehr kennt“, betont Seibold mit schwäbischem Zungenschlag. Das funktioniert. Zu seinen Kunden zählt er Sterne-Restaurants wie das „Ox & Klee“ in Köln, das „Haerlin“ in Hamburg, das „Aqua“ in Wolfsburg, „Skykitchen“ und „Cordo“ in Berlin, „Schanz“ in Piesport.

Marius Ries, Koch und Inhaber des Restaurant Canova, ist einer der Köche, die das Gemüse und die Kräuter von Marko Seibold zu schätzen wissen
Marius Ries, Koch und Inhaber des Restaurant Canova, ist einer der Köche, die das Gemüse und die Kräuter von Marko Seibold zu schätzen wissenepd / Kay Michalak

Was Seibold liefere, sei „das Beste, was man kriegen kann“, sagt „Canova“-Chef Ries. „Das wird nicht einfach wild draufgeschmissen. Der Gast muss es erkennen, muss es schmecken können.“ Was da Stück für Stück ausschließlich in Handarbeit geerntet wird, hat natürlich auch seinen Preis: 10 bis 12 Cent berechnet Seibold dem Koch für eine Kräuterspitze.

„Brot, Butter, Wildkräuter – mehr brauchst du nicht“

Die Qualität ist dafür so außergewöhnlich, dass beim „Amuse Bouche“-Abend – Seibold ist dabei – wilde Keimlinge, Kamille, Topinambur, Liebstöckel, Vogelmiere, Gundermann und Fichtensprossen gleichberechtigt neben Schwertmuscheln und japanischem Wagyu liegen. Der Gärtner ist begeistert von der Kreativität, mit der seine Genüsse in der Küche verarbeitet wurden. Im Alltag darf es für ihn aber gerne auch mal ganz einfach sein: „Brot, Butter, Wildkräuter – mehr brauchst du nicht.“

Ort: Bio-Hof Marko Seibold, Henstedter Straße 1, 28857 Syke/Henstedt