Bukowina, Galizien, Bessarabien: Auf modernen Karten sind diese Landstriche nicht verzeichnet. Vor dem Zweiten Weltkrieg lagen dort, im östlichen Europa, Zentren jüdischen Lebens. Designer Christian Herrmann begibt sich seit Jahren mit der Fotokamera auf Spurensuche. Vor wenigen Wochen ist sein berührend melancholischer Bildband „In schwindendem Licht“herausgekommen (Lukas Verlag, 180 Seiten, 30 Euro). Er lässt ahnen, wie vielfältig das jüdische Leben war, bevor die Deutschen kamen. Ein Interview mit Joachim Heinz über Erinnerungen, Turnhallen in Synagogen und den Holocaust.
Herr Herrmann, Sie fotografieren auf Ihren Reisen Spuren jüdischen Lebens in Osteuropa. Wie sind Sie dazu gekommen?
In den 90er Jahren bin ich erstmals nach Krakau gekommen und habe mir dort unter anderem das ehemalige jüdische Viertel Kazimierz angeschaut. Dort hat Steven Spielberg seinen Film „Schindlers Liste“ gedreht.
Darin schildert Spielberg den Massenmord der Nationalsozialisten an Europas Juden.
Seit dem Besuch von Kazimierz wurde mir zweierlei immer klarer. Zum einen, dass vor der NS-Zeit die jüdische Bevölkerung im Osten Europas viel größer und bunter war als im Westen.
Und zum anderen?
Dass deren Vernichtung bis heute etwas sehr Nachhaltiges hat. Die deutschen „Herrenmenschen“ haben nicht nur die Menschen getötet. Auch das Wissen um sie und ihre kulturelle Vielfalt ist verloren gegangen.
Was ist geblieben?
Geblieben sind Synagogen, Friedhöfe, Massengräber, aber beispielsweise auch Spuren von Schriftkapseln, die als Haussegen an Türrahmen angebracht wurden; die sogenannten Mesusot.
Wie findet man das alles?
Indem man Passanten auf der Straße anspricht, Kontakte zu Lokalhistorikern und engagierten Bürgern aufbaut. Und natürlich auch über Internet- und Archivrecherchen. In der Region um das ukrainische Lemberg etwa lassen sich anhand der alten österreichischen Katasterkarten Gebäude und Grundstücke identifizieren.
Wie reagieren die Menschen, wenn ein Deutscher daherkommt und sich für das jüdische Leben in ihrer Region interessiert?
Gerade alte Leute wollen erzählen, was sie im Krieg erlebt haben, als ein Großteil dieses jüdischen Lebens ausgelöscht wurde. Für diese Geschichten hat sich jahrelang niemand interessiert.
Und die Jüngeren?
Da gibt es viele Aktivisten und Vereine, die anfangen, Fragen zu stellen; die sich mit der Geschichte ihrer Stadt oder ihrer Region auseinandersetzen, in der sie wohnen, weil das ja auch zu ihrer eigenen Geschichte gehört und sie es als ihre eigene Geschichte annehmen.
Gibt es staatliche Unterstützung für solche Initiativen?
Das ist oft schwierig, weil die entsprechenden Strukturen vor Ort fehlen, die die Gelder verteilen könnten. Wobei das von Land zu Land unterschiedlich ist.
Das heißt?
In den baltischen Ländern, Rumänien oder in Polen hat sich seit dem EU-Beitritt enorm viel getan. In der Ukraine und Moldawien sieht die Sache anders aus.
Sie zeigen aber auch ehemalige Synagogen, die jetzt etwa als Turnhallen genutzt werden.
So etwas mag gewöhnungsbedürftig erscheinen. Aber ich finde es besser, wenn da jemand ist wie der Basketballtrainer im Städtchen Tjatschiw in den Karpaten, der um die Geschichte des Gebäudes weiß und sich für den Erhalt verantwortlich fühlt, als wenn die Häuser verfallen.
Müsste nicht auch Deutschland als Land der Täter hier mehr Verantwortung übernehmen?
Es gibt bereits Unterstützung; aber da ginge sicher noch mehr. Vor allem wenn man sieht, dass man mit wenig Geld vergleichsweise viel bewirken kann.
Vielleicht liegt das auch daran, dass vielen Deutschen das Schicksal der Juden in Osteuropa immer noch nicht so bewusst ist.
Es stimmt schon: Wir haben die Erinnerung an den Holocaust in Konzentrationslagern wie Auschwitz eingegrenzt. Das ist der Ort für das Böse. Zugleich haben Menschen diese Lager überlebt; sie können uns davon erzählen. Das ist bei den Massenerschießungen im Osten nur sehr selten der Fall.
Gibt es einen Platz, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Janowska bei Lemberg gehört dazu.
Warum?
Das ist ein Ort, der verstört und erschüttert. Hier erschossen die Deutschen Tausende Juden, ließen sie 1943 im Rahmen der „Sonderaktion 1005“ wieder ausgraben und verbrennen, um Hinweise auf die Mordaktionen zu verwischen. Später brachte der sowjetische Geheimdienst KGB auf der Anlage politische Gefangene unter; heute ist hier ein ukrainisches Staatsgefängnis. Immer noch sieht man, wie Menschen mit Metalldetektoren die Erschießungsstätte neben dem ehemaligen Lager nach vermeintlichen Schätzen durchsuchen – dabei ist dort wirklich nichts zu finden. Außer Spritzen von Junkies, die sich auf dem abgelegenen Gelände einen Schuss setzen.
Blicken Sie mit anderen Augen auf das Judentum, seit Ssie hre fotografische Arbeit begonnen haben?
Ich habe eine Menge dazugelernt über Bräuche und einzelne Ausrichtungen. Und ich habe sehr viele jüdische Freunde gewonnen. Als Sohn eines Wehrmachtssoldaten berührt mich das.
Sind Sie selbst ein gläubiger Mensch?
Nein, das kann ich nicht sagen, obwohl mein Großvater evangelischer Theologe war.